Kein Spitzenplatz für Ärzte und Spitäler

Kein Spitzenplatz für Ärzte und Spitäler
(Foto: Tobilander - Fotolia.com)

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Luzern – Mit der Qualität der medizinischen Behandlung in der Schweiz hapert es gewaltig. Es geht um Tausende von vermeidbaren Todesfällen und Zehntausende von Komplikationen. Die Reaktion von Spitälern, Ärzten und Behörden ist lau.

Von Urs P. Gasche, publiziert im CSS Dialog

Nach einem Flugzeugabsturz oder Zugunglück überbieten sich die Schlagzeilen. Ursachen werden untersucht und Sicherheitsvorkehrungen verstärkt. Solche Ereignisse nehmen wir als grössere Gefahr wahr als Risiken, die ihre Opfer «nur» im Laufe der Zeit fordern, wie in Spitälern und Arztpraxen. Jedes Jahr sterben rund 5’000 Menschen wegen eines Fehlers in einem Akutspital. Dazu kommen über 120’000 Patienten, die im Spital einen gesundheitlichen Schaden erleiden, nochmals operiert oder nachbehandelt werden müssen. «Die Hälfte der Schäden wäre vermeidbar» Schuld an dieser hohen Opferzahl sind Infektionen, die man im Spital aufliest, Behandlungsfehler, unzweckmässige Medikation, falsche oder verspätete Diagnosen sowie Fehler in der Pflege.

3’000 Todesfälle, die verhindert werden könnten
Den Ernst der Lage fasst das Bundesamt für Gesundheit (BAG) wie folgt zusammen: «Jeder zehnte Spitalpatient erleidet einen gesundheitlichen Schaden und die Hälfte dieser Schäden wäre vermeidbar. » Das sind 2’000 bis 3’000 Todesfälle und rund 60’000 Schadensfälle, die jedes Jahr verhindert werden könnten. Über diese vielen Opfer gibt es keine Schlagzeilen, keinen öffentlichen Druck. Deshalb tun Politiker, Behörden und Spitalverantwortliche zu wenig, um die Sicherheit zu verbessern.

Risiken auch ausserhalb der Spitäler
Zu weiteren Schäden kommt es in Arztpraxen oder Pflegeheimen. An fünf von hundert Spitaleinweisungen sind falsch verschriebene Medikamente schuld. Abrechnungen von Krankenkassen zeigen, dass 150’000 Patienten mehr als zwanzig Medikamente gleichzeitig einnehmen. Über 5’000 von ihnen sterben jährlich an einem gefährlichen Arzneimix, schätzt Gerd Kullak, Professor für klinische Pharmakologie am Universitätsspital Zürich. Nicht immer bestimmt das effektive Leiden, welche Untersuchungen, Diagnosen und Behandlungen folgen, sondern die zufällige Wahl des Arztes. Mit dem gleichen Hautleiden ging eine Tessiner Patientin gemäss der Konsumentenzeitschrift «Scelgo Io» nacheinander zu zehn dortigen Dermatologen: Drei haben Schuppen untersucht, zwei Blut- und Allergietests gemacht, einer hat einen Pilz diagnostiziert und eine Pilzsalbe verschrieben, einer hat eine Narbensalbe verschrieben und vier andere eine befeuchtende Crème. Ein weiterer hat zusätzlich ein Eisenpräparat verordnet. In einem Operationssaal landen Patienten häufiger, wenn viele Arztpraxen mit Chirurgen in der Nähe sind. Tessiner wurden vergleichsweise selten am Herzen operiert. Seit aber Kardiologen und Herzchirurgen 1999 ein Herzzentrum eröffneten, sind Eingriffe am Herzen – mit all ihren Risiken – im Tessin viel häufiger als in den meisten andern Kantonen – ohne einen erwiesenen Nutzen. Im Kanton Freiburg haben fast doppelt so viele 60-jährige Frauen keine Gebärmutter mehr als im Kanton Graubünden.

«Kaum ein gleichwertiges Gesundheitssystem»
Unser Land leistet sich die teuerste Gesundheitsversorgung Europas, aber nicht die beste. Wer daran verdient, verbreitet aus dem hohlen Bauch heraus, die Schweiz sei spitze. Die Zürcher Chefärzte-Gesellschaft rechtfertigte die hohen Kosten mit «einem der besten, wenn nicht dem besten Gesundheitssystem der Welt». Sie meinten wohl das Angebot: Laut OECD gibt es bei uns pro Einwohner ein Viertel mehr berufstätige Ärzte als in andern Industrieländern und einen Rekord an hochtechnischen Apparaten wie MRI, CT u.a.

Ärzte verdienen an unnötigen Behandlungen
Patientinnen und Patienten interessiert etwas anderes: Wie rasch und dauerhaft werden sie wieder gesund, oder wie gut bekommen sie ihre chronischen Krankheiten in den Griff. Die meisten Ärzte tun ihr Bestes, doch ihre Einkommen hängen davon ab, wie häufig sie Untersuche machen lassen, behandeln und operieren. Unnötige Diagnosetests, Behandlungen und sogar Komplikationen erhöhen den Kontostand der Ärzte. Umgekehrt kommen gute Ärzte, die nur das Sinnvolle machen und damit Erfolg haben, finanziell schlecht weg. In den meisten andern Ländern sind Spezialärzte nach ihrer Präsenzzeit bezahlt. Am Aufklären einer Patientin über Nutzen und Risiken eines Eingriffs verdienen sie gleich viel wie am Operieren. Die falschen Anreize bleiben bei uns tabu, auch bei den Spitälern. Deren Ertragsrechnung sieht besser aus, wenn sie kompliziertere Diagnosen stellen als nötig und wenn sie aufwändiger behandeln und eilig operieren statt abwarten. Und weil Fallpauschalen nur die Spitalkosten decken, haben die Spitäler kein Interesse daran, das Genesen der Patienten nach Austritt weiterzuverfolgen. Deshalb wird nicht transparent, welche Spitäler die Patienten am besten behandeln. Anders in den Niederlanden: Dort umfassen die Fallpauschalen alle Kosten – auch nach dem Spitalaustritt – bis zur endgültigen Genesung. Die Spitäler haben ein Interesse daran, dass ihre Patienten bald wieder fit sind, und kümmern sich um die beste Nachbehandlung oder die beste Reha. Die endgültigen Behandlungsresultate werden erfasst und verglichen. Solche Patientendaten besitzt in der Schweiz nur die Suva. Sie könnte ohne weiteres bekannt machen, welche Behandlungsteams in welchen Spitälern die Unfallpatienten am erfolgreichsten behandeln. Doch aus politischer Rücksicht wertet die Suva ihre Zahlen nicht aus. Sie habe «keinen Auftrag des Gesetzgebers», redet sie sich heraus. Die unterschiedlichen Anreizsysteme sind ein Grund, weshalb es in den Niederlanden im Verhältnis zur Bevölkerung nur ein Viertel so viele Spitäler braucht wie in der Schweiz. Niederländerinnen und Niederländer müssen weniger häufig ins Spital, werden seltener operiert und gehen entsprechend weniger Risiken ein. Lebenserwartung und Gesundheitszustand vergleichbarer sozialer Schichten sind identisch.

Schweiz schlechter als Nachbarländer
In der Schweiz kommt es zu vielen Überbehandlungen ohne Nutzen. Und während ihrer Zeit im Spital sind Patientinnen und Patienten grösseren Risiken ausgesetzt. Es kommt bei uns häufiger zu Infektionen als in den Niederlanden, in Deutschland oder Frankreich. Jedes Jahr könnte man rund 600 Todesfälle und 15 000 Infektionserkrankungen vermeiden, wenn in Operationssälen minimale hygienische Standards eingehalten würden. Das geht aus einer Erhebung von Swissnoso hervor, einer Gruppe von leitenden Hygiene- und Infektionsspezialisten. Bei den insgesamt rund 9700 jährlichen Darmoperationen käme es zu fast 400 Infektionen weniger, wenn die Behandlungsqualität in der Schweiz so gut wäre wie in Deutschland, und sogar zu fast 500 weniger, wenn die Qualität auf dem Niveau französischer Spitäler wäre. Bei diesen Werten handle es sich um eine «robuste statistische Aussage», erklärte Swissnoso.

Versagen der Bundesbehörden
Das Risiko für Infektionen, für ungeplante Nachbehandlungen oder Medikamentenfehler kann im einen Spital fünfmal grösser sein als in einem andern, doch wir wissen nicht in welchem. Denn Behandlungsresultate werden noch immer nicht vergleichbar erhoben, und dort, wo sie es wurden, wie bei den Infektionen, erfuhr die Öffentlichkeit die Zahlen der einzelnen Spitäler nicht. Umfassende Daten über Behandlungsergebnisse sollten längst im Internet zugänglich sein. Das Krankenversicherungsgesetz (KVG) gab dem Bundesrat 1996 die Kompetenz, «systematische wissenschaftliche Kontrollen zur Sicherung der Qualität» durchzuführen. Für diese Kontrollen hätte er einheitlich erfasste Daten über die Behandlungsergebnisse einfordern können. Seit 2009 sind die Spitäler sogar verpflichtet, Statistiken zur Überwachung der Qualität zu liefern. Doch trotz rund 5’000 Menschen, die jedes Jahr in einem Akutspital wegen eines Fehlers sterben, und trotz mindestens 120’000 Behandelten, die einen gesundheitlichen Schaden erleiden, hatte der Bundesrat nicht den Mut, sich gegen die Lobbys der Spitäler und Ärzte durchzusetzen und vergleichbare Daten zu verlangen. Das ist kein gutes Omen für die, welche mit einer Einheitskasse auf mehr Staatsmedizin setzen. Ein regulierter Wettbewerb wie in den Niederlanden würde die Qualität schneller verbessern. Dazu müssten die Kassen über die Vertragsfreiheit verfügen.

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