Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Massenabstumpfung

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Massenabstumpfung
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – Kindheitserinnerungen, wer hat sie nicht? Wenn ich als Vertreter der geburtenstarken Jahrgänge an die Kindheit zurückdenke, kommen mir natürlich Dinge in den Sinn wie Autos. Sie waren für mich als Junge besonders spannend und gehörten schon zu meinem Alltag, seit ich denken kann; damals alles noch ohne Katalysatoren. Zu Beginn der Siebzigerjahre musste man das Auto wegen sonntäglichen Fahrverbotes stehen lassen, die OPEC konnte die halbe Welt erpressen. Es gab schon die ersten serienreifen Geschirrspülmaschinen und Atomkraftwerke der zweiten Generation, die nicht mehr – wie ihre Vorgänger – regelmässig Schauplatz von mit Ausschreitungen begleiteten Demonstrationen waren. In meiner Jugend kam zum Artensterben der saure Regen hinzu und man demonstrierte gegen Startbahnen von Flughäfen. Gewisse Dinge waren einfach da, sie waren für mich normal. Später dann kamen diverse neue Dinge dazu, Internet und Co. lassen grüssen, sie waren für mich neu und spannend. Doch mittlerweile in gesetzterem Alter sind diverse neue Dinge, die immer weiter dazukommen anders, sie sind für mich neu und unheimlich und sie stören die Ordnung, die ich mir in den letzten Jahren zurechtgelegt habe.  

Was ich hier beschreibe, ist nichts anderes als der typische Lebenszyklus eines Menschen. Mit zunehmendem Alter steht viel Erlebtes und Vertrautes auf dem Spiel, weshalb man auch skeptischer in Bezug auf viel Neues wird. Jugendliche sind gegenüber Neuem generell offener und die Kleinen nehmen das alles sowieso einfach mal mit. Beunruhigend ist daran, dass Kinder täglich mit Krieg konfrontiert werden und beunruhigender noch, dass sie dies bis zu einem gewissen Grad als gegeben betrachten. Was aber nun in Aleppo passiert, sprengt alles bisher Gesehene. Die Welt sieht dieser Apokalypse entsetzt zu, muss zusehen, wie noch der letzte Hauch von Humanität weggebombt wird. Wie erkläre ich das meinen Kindern? Tja, köpfen ist ja mittlerweile auch normal, man stumpft zwangsläufig ab.

Der arabische Herbst
Der arabische Frühling ist längst Vergangenheit. Das Morgenland birgt immense geopolitische Risiken mit Folgen für die Weltwirtschaft. Zwar sprechen wir bei den sogenannten MENA (Mittlerer Osten und Nord Afrika) – Staaten «nur» von etwa 4.3% der Weltwirtschaftsleistung und 5.7% der Weltbevölkerung. Sie stemmen aber 11.4% der weltweiten Militärausgaben und sitzen auf mehr als der Hälfte der globalen Ölreserven. Dazu sind sie untereinander völlig zerstritten. Es geht in dieser Konfliktzone bei weitem nicht nur um Syrien, das ist nur das aktuell traurigste Exempel. Dort spielen Amerikaner und Russen mittlerweile eine müde Schachpartie, bei der es bald nur noch darum gehen könnte, auf der Jagd nach dem IS die Flugzeuge des anderen nicht abzuschiessen. Das absolute Maximum an Entgegenkommen in der russisch-amerikanischen Beziehung ist damit erreicht. Von einer gemeinsamen Strategie konnte ohnehin nie die Rede sein. Es rächt sich nun, dass Obama die Überschreitung der roten Linie durch Assad damals ungesühnt liess. Obamas Schwäche wurde gleichzeitig Putins Stärke, der jetzt die Strippen zieht. Nebenan im Irak tobt der Bürgerkrieg, so wie in Afghanistan oder Palästina. Chaos herrscht in Libyen oder in Somalia, fast überall brodelt es, von Ägypten ganz zu schweigen. Ob schliesslich Saudi-Arabien bei dem tiefen Ölpreis sein verwöhntes Volk bei Laune halten und den Terrorismus mitfinanzieren kann, darf auch bezweifelt werden. Der Herbst hielt schon länger Einzug in die Region, für Schweizer Luxusgüterhersteller war das bekanntlich keine gute Nachricht.

Europa verdrängt
Die Region war noch nie frei von Konflikten und es gibt verschiedene Lager mit unterschiedlicher Auffassung darüber, warum dies so ist. Neben dem Religionsargument, das auf den unüberbrückbaren Gegensatz vornehmlich zwischen Schiiten und Sunniten abzielt, gibt es eine starke Meinung, die Kolonialisierung sei zu einem grossen Teil schuld an der Destabilisierung der Region. Doch es ist leidig darüber zu diskutieren, weg bringt man die Probleme damit jedenfalls nicht. Fakt ist leider auch, dass Diplomatie dort unten kaum etwas bewirkt und wenn einmal Krieg geführt wird überhaupt nichts mehr. Da kann man dann als Weltmacht nur noch zusehen oder mitkämpfen. Gegenwärtig tut man beides, wobei vom ersten einiges mehr als vom zweiten. Europa hält sich im bewaffneten Konflikt zwar zurück, ist dafür aber an der Flüchtlingsfront gefragt. Europa sieht nun im eigenen Land, was es Jahrzehnte verdrängt hat, nämlich den brodelnden Vulkan, dessen Lava in Flüchtlingsströmen jetzt nach Europa fliesst. Da ist man schon froh, zu hören, dass es anderen auch nicht besser geht, den Amerikanern etwa mit Hillary Clinton oder Donald Trump, den Romantikern mit Brangelina oder den Schweizern mit ihrem Bachelor. Das beschäftigt die Menschen. Dank Medien können wir wenigstens abschalten, die Voraussetzung für weitere «erfolgreiche» Verdrängung. (Raiffeisen/mc/ps)

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