Patrick Kessler, Geschäftsführer VSV, im Interview

Patrick Kessler, Geschäftsführer VSV, im Interview
Patrick Kessler, Geschäftsführer Verband des Schweizerischen Versandhandels VSV. (Foto: zvg)

von Patrick Gunti

Moneycab.com: Herr Kessler, der Onlinehandel in der Schweiz hat im vergangenen Jahr um satte 8,3% zugelegt. Für 7,8 Mrd Franken wurden Waren und Güter geordert. Heimelektronik und Fashion/Schuhe waren die beliebtesten Sortimente. Warum ist gerade in diesen Segmenten die Verschiebung vom stationären in den Online-Handel so gross?

Patrick Kessler: Beide Sortimente haben gemeinsam, dass vor allem im Bereich der Markenprodukte der Online-Handel eine neue Vergleichbarkeit und somit Transparenz und Preisdruck in den Markt gebracht hat, was meines Erachtens die Grundlage für den Boom ist. Dann haben gerade diese beiden Sortimente mittlerweile ein sehr hohes Bequemlichkeits-Niveau (Convenience) erreicht. Gratis-Lieferungen, Gratis-Retouren inkl. Abholung, Next Day-Zustellung, Kauf auf Rechnung etc. sind Faktoren, welche in diesen beiden Sortimenten neben dem attraktiven Preisniveau heute Treiber des Wachstums sind.

Insgesamt bestellten die Schweizer Konsumenten Waren aus Non-Food Sortimenten bereits zu 15.3 % online. Wird die Entwicklung im aktuellen Tempo weitergehen?

Ich gehe davon aus, dass das Tempo hoch bleibt und sich eventuell sogar nochmals ein wenig beschleunigt. Warum? Ich sehe gerade im Bereich Heimelektronik und Fashion einen Tipping Point für den stationären Handel als erreicht. Bis zu einem gewissen Punkt konnte man Umsatzrückgänge auf der Fläche verkraften. Zu einem bestimmten Punkt kippt aber das ganze «System» und es braucht radikale Veränderung (Flächenanpassung) um wieder schwarze Zahlen zu schreiben. Dies wirkt wiederum als «Turbo»-Effekt für den Online-Handel: Je weniger Ware auf der Fläche angeboten wird, desto eher bewegen sich die Leute im digitalen Shop, desto schneller wächst der Online-Handel.

«Schnelle Lieferzeiten entwickeln sich zu einem Alleinstellungsmerkmal für Online-Händler.»
Patrick Kessler, Geschäftsführer des Verbands des Schweizerischen Versandhandels VSV

Im Food-/Near-Food-Bereich beträgt der Anteil erst 1,9%, und dieser wird vor allem von Wein und Kaffeekapseln getragen. Da ist noch viel Luft nach oben. Wie sehen Sie in diesem Bereich die weitere Entwicklung?

In der Tat ist da noch sehr viel Luft nach oben. Man muss dies aber auch in den speziellen Schweizer Kontext stellen: Wir haben im europäischen Vergleich immer noch eine unglaublich hohe stationäre Versorgungsdichte im stationären Food-Handel und Migros/Coop haben wenig Interesse, ihre eigenen Flächen selber zu kannibalisieren. Ich gehe soweit und behaupte folgendes: Erst wenn ein Dritter anfängt, den Online-Food Markt richtig zu bearbeiten, dann werden Migros und Coop im Online-Food die Zähne zeigen. Beide beziehen ja mit Fooby und Migusto gerade Stellung!

Wie im stationären Handel fliesst auch im Onlinehandel viel Geld ins Ausland. 1,3 Mrd Franken waren es im vergangenen Jahr, 18% mehr als 2015 und gut doppelt so viel wie noch 2012 – und Zalando ist da noch nicht einmal eingerechnet. Welche ausländischen Anbieter profitieren?

Von diesen 1.3 Mrd CHF profitieren derzeit vor allem Amazon und Aliexpress resp. deren Markplatzlieferanten. Diese Unternehmen profitieren aufgrund ihrer Grösse derzeit nicht nur von günstigeren Kostenstrukturen (Lagerkosten, Logistikpersonal etc.), sondern auch von vorteilhaften MWST-/Zollfreigrenzen und Portovereinbarungen des Weltpostvereins. Oder einfach formuliert: Die in der Schweiz domizilierten Händler zahlen auf jeden Verkauf MWST, Zoll und Schweizer Portotarife, ein Aliexpress zahlt für den Grossteil seiner Pakete weder MWST, Zoll noch Schweizer Posttarife. Ein Missstand auf den wir seit mehreren Jahren hinweisen. Zalando hingegen verhält sich wie ein Schweizer Unternehmen: Man bezahlt Zoll, MWST und Posttarife wie ein Schweizer Unternehmen.

Ebenso wie Zalando und andere Anbieter investieren auch die Chinesen viel in die Infrastruktur. Wie entscheidend sind die Lieferzeiten letztlich für eine Bestellung?

Schnelle Lieferzeiten entwickeln sich zu einem Alleinstellungsmerkmal für Online-Händler. Eine ultraschnelle Lieferung kann zudem als Argument für eine Preisdifferenzierung gelten. Am Schluss entscheidet immer der Kunde: Der Händler muss sich zwischen «schnell und etwas teurer» oder «langsam und billig» einen Platz erkämpfen. Ich gehe davon aus, dass die Zeiten von 3 – 4 Wochen Lieferfrist auf Aliexpress bald vorbei sein werden.

«Ja ich könnte mir sogar vorstellen, dass Warenbestände in stationären Geschäften für dritte Online-Händler oder via Plattformen verfügbar gemacht werden um Say Day Delivery anbieten zu können.»

Same Day Delivery soll zum Standard werden. Welche Herausforderungen bringt dies für die Händler mit sich?

Wer am Tag der Bestellung liefern möchte, muss die Ware in der Nähe des Kunden verfügbar haben. Selbst eine Lieferung von Genf nach St. Gallen am gleichen Tag ist eine logistische Herausforderung, wenn man dafür nicht gleich 100 CHF ausgeben möchte. Insofern glaube ich, dass wir eine Phase der Dezentralisierung der Warenbestände sehen werden. Ja ich könnte mir sogar vorstellen, dass Warenbestände in stationären Geschäften für dritte Online-Händler oder via Plattformen verfügbar gemacht werden um Say Day Delivery anbieten zu können.

Wie kann der Schweizer Onlinehandel erfolgreich gegen die ausländische Konkurrenz bestehen?

Der Schweizer Händler kann gerade über das Thema Geschwindigkeit punkten. Ebenso ist es auch für viele Konsumenten auch im digitalen Zeitalter noch wichtig, dass man Garantien und Vertrauen geschenkt bekommt. Damit geniessen Schweizer Händler mit wertigen Konsumgütern vorläufig sicherlich weiterhin die Aufmerksamkeit der Schweizer Konsumenten. Wenn man darum herum gute Services und einwandfreie Abwicklung sicherstellt, ist der Kunde auch heute noch loyal. Brack, Zalando und Co. beweisen es täglich. Schwierig haben es insbesondere diejenigen Anbieter, welche vor allem austauschbare und vergleichbare (Marken-)Produkte anbieten. Im Umkehrschluss bedeutet dies für den Händler, dass er vermehrt in Exklusivität bis hin zur Vertikalisierung denken muss.

Und wie sieht es auf der anderen Seite für die Schweizer Anbieter im internationalen Markt aus? Wie können sie am weltweiten Wachstum teilhaben?

Ich sehe das als Riesenchance für Schweizer Händler, aber auch für Schweizer Hersteller! Man muss sich das einmal vor Augen halten: In Märkten wie China, Indien aber auch in Europa gibt es eine Mittel- und Oberschicht, welche nach Qualität und Vertrauen lechzt und auch bereit ist dafür einen Preis zu bezahlen. Schweizer Produzenten und Händler bekommen damit einen unbezahlbaren Startbonus mit auf den Weg in den globalen Wettbewerb um den privaten Konsumenten. Ein Selbstläufer ist das bekanntlich nicht, aber hier und heute bieten sich einmalige Chancen mutige Schritte vorwärts zu tun und aus dem isolierten Markt Schweiz auszubrechen.

«Ich denke aber auch, dass wir in 10 Jahren wieder einfach vom «einkaufen» sprechen werden und es dem Unternehmen dann egal sein wird, ob online bestellt, abgeholt oder im Laden eingekauft wird.»

Der Onlinehandel entwickelt sich sehr schnell. Ist es möglich, eine Prognose zu machen, wie er sich in zehn Jahren präsentieren wird? Wie werden die Nutzer online einkaufen – und welche Herausforderungen bringt dies für die Anbieter mit sich?

Prognosen von heute sind morgen Makulatur. Wir haben uns trotzdem zum Fenster hinausgewagt und prognostizieren für 2019 einen NonFood-Onlineanteil am Retailmarkt von 20 %. Ich persönlich bin überzeugt, dass es in 10 Jahren 30 % sein werden. Ich denke aber auch, dass wir in 10 Jahren wieder einfach vom «einkaufen» sprechen werden und es dem Unternehmen dann egal sein wird, ob online bestellt, abgeholt oder im Laden eingekauft wird. Hauptsache es wird bei mir eingekauft. Die Verschmelzung der Einkaufsformen bringt aber hohe Investitionen in IT/Systeme mit sich. Die Vielfalt der Prozesse wird für das Unternehmen zunehmen, den Kunden interessiert das aber nicht im geringsten – es muss einfach funktionieren.

Unter Ihren Mitgliedern finden sich grosse Player wie Zalando, aber auch kleinere Händler. Wie schwierig wird es für kleine oder auch neue Händler, sich in einer bereits weit fortgeschrittenen Entwicklung gegen die Platzhirsche zu behaupten?

Für die Nische ist immer Platz – schwierig wird es aber in der Tat für kleine Händler mit breitem Produktangebot! Personen bzw. Unternehmen, welche sich aber mit Leidenschaft einem bestimmten Produkt(segment) hingeben, werden auch weiterhin einen Platz in der Handelswelt haben. Sie haben heute sogar einen viel grösseren Spielplatz als noch vor ein paar Jahren. Ich kann mir gut vorstellen, dass gerade die Entwicklung in Richtung Marktplatzökonomie diesen kleinen Händlern unglaubliche Chancen bietet. Es war vor 15 Jahren fast undenkbar mit einem einzigen Produkt Handel zu betreiben, heute können Sie damit weltweit relativ einfach Millionenumsätze generieren und sie bleiben (fast) unantastbar. Und wenn diese Händler diese Produkte auch noch selber entwickeln und mit Schweizer Qualitätsphilosophie produzieren lassen, dann schauen auch kleine, innovative Unternehmen einer rosigen Zukunft entgegen!

Herr Kessler, herzlichen Dank für das Interview.

Zur Person:
Patrick Kessler führt seit 2008 den VSV ASVAD Verband des Schweizerischen Versandhandels als Präsident. Seit seinem Amtsantritt ist der Verband von 80 auf über 280 Mitglieder angewachsen. Von 2000 bis 2007 hat er zuerst als CFO und danach als CEO den Quelle Versand und verschiedene zugehörige Marken in der Schweiz geführt. Er gilt als Kenner des Online-Handelsmarktes Schweiz und scheut sich nicht, mit provokativen Thesen seine Mitglieder aber auch den stationären Handel zum Denken und Handeln anzuregen. Neben seiner Aufgabe im Verband engagiert er sich politisch als Kantonsrat im Kanton AR, führt als Präsident die Familien-Ausgleichskasse Exfour und steht als Vorstandsmitglied dem beruflichen Reintegrationsprojekt Kleika zur Seite.

Zum VSV:
Der VSV vereint über 280 Online-Versandhändler, welche in der Schweiz rund 60% des B2C-Online-Handelsvolumens und ein Drittel des gesamten Paketvolumens der Schweizer Post generieren. Von A wie Ackermann bis Z wie Zalando sind kleine Unternehmen aber auch Grossanbieter mit einem Ziel vereint: Den Online-Versandhandel in der Schweiz für den Konsumenten fair und in einem vertrauenswürdigen Umfeld weiterentwickeln. Im Verband finden verschiedenste Branchen zueinander und arbeiten miteinander an den gemeinsamen Themen wie Zustelldienstleistungen, Zahlungsmöglichkeiten, Dialog-Werbung, Kundendienst, SEO/SEM, Verpackungen u.v.a.

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