Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Europäisches Tabu

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Europäisches Tabu
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – „Viel Glück zum Geburtstag» hiess es letzten Samstag in Rom, wo vor genau 60 Jahren mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge der Startschuss für die heutige EU fiel. Die Gründungsmitglieder waren damals Deutschland und Frankreich, zuvor praktisch mehr als ein Jahrhundert lang bittere Feinde, sowie Italien und die Beneluxländer. Heute zählt die Europäische Union 28 Mitglieder und 27 davon trafen sich letztes Wochenende zur Diamantenen Hochzeit in Rom. Therese May war schon nicht mehr dabei, denn gestern hat sie wie angekündigt Artikel 50 ausgelöst und damit Grossbritanniens Austritt aus der EU offiziell in die Wege geleitet. Den Ärger darüber wollten sich die europäischen Staatschefs in Rom nicht anmerken lassen. Sie beschworen lieber einmal mehr die europäische Einheit und unterzeichneten die «Agenda von Rom», ein Dokument, in dem es darum geht, wie es mit der EU weitergehen soll. Damit werde Aufbruchsstimmung erzeugt, so EU-Kommissionpräsident Jean-Claude Juncker, der nicht müde wird, die EU schön zu reden. Denn in Tat und Wahrheit ist genau das Gegenteil der Fall.

Die «Agenda von Rom» bietet bestes Anschauungsmaterial, wieso in Europa eben keine Aufbruchsstimmung aufkommt. Dafür ist vor allem eine sehr allgemein gehaltene – um nicht zu sagen inhaltsleere – Formulierung der Ziele verantwortlich: Man wolle «ein sicheres und geschütztes Europa; ein wohlhabendes und nachhaltiges Europa; ein soziales Europa; und ein stärkeres Europa in der Welt mit mehr gemeinsamem Einsatz für Sicherheit und Verteidigung». Wer will das schon nicht? Ein schön klingender Kauderwelsch, aber auch nicht mehr. Und selbst diese wenig konkrete Grundsatzerklärung kam nur mit Müh und Not zustande. Griechenland und einige osteuropäische Staaten, insbesondere Polen, drohten bis zuletzt damit, die Unterzeichnung zu verweigern. Die Griechen verlangten ein Bekenntnis zu sozialen Anliegen und dazu am liebsten noch ein bisschen Schuldenerlass, während die Polen der Hinweis auf ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten störte. Man befürchtet dort an politischem Gewicht zu verlieren. Am Ende resultierte ein typischer EU-Kompromiss. Für jeden ist etwas dabei, aber es gibt keine Vorgaben und keinen Zeitplan für konkrete Massnahmen. Im Klartext: Es ändert sich nichts. Sechzig Jahre nach der Grundsteinlegung ist die Europäische Union mit heute mehr als viermal so vielen Mitgliedern immer schwerfälliger geworden, ihre Beschlüsse zahnlos.

Die Gretchenfrage
Die Gretchenfrage, wie es mit der EU integrationspolitisch weitergehen soll, stellt sich eigentlich schon seit Jahren, spätestens nach dem Beinah-Kollaps von Griechenland 2011. Darüber gab es aber auch in Rom keine wirklichen Diskussionen. Selbstzelebration statt Krisenmanagement war die Devise – und vor allem wenigstens für einmal Festlaune statt Krisengipfel. Dabei hat gerade Kommissionspräsident Juncker vor kurzem einige immerhin vage Denkanstösse geliefert. In seinem Weissbuch von Anfang März skizziert er fünf Szenarien für die Zukunft Europas. Das sind: 1. Weitermachen wie bisher; 2. Fokussierung auf den Handel im Binnenmarkt ohne volle Personenfreizügigkeit oder weitreichende Zusammenarbeit in Fragen wie beispielsweise der Migrationspolitik; 3. Eine Europa mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten; 4. Eine EU mit weniger dafür weitreichenderen Kompetenzen, z.B. Schaffung einer Verteidigungsunion und 5. Fiskalunion mit noch viel stärkerer Integration.

Selbst für Juncker ist die Variante Weiterdurchwursteln wie bisher keine Lösung und auch das zweite Szenario lehnt er ab. Darüber hinaus prescht aber auch er nicht vor und gibt zu den verbliebenen Szenarien keine Empfehlung ab. Klar ist: Eine Fiskalunion mit noch stärkerer Integration ist immer unrealistischer. Selbst bei sonst europafreundlichen Linkswählern ist die Skepsis gegenüber Europa mittlerweile ziemlich gross. Eine EU der verschiedenen Geschwindigkeiten hingegen besteht faktisch schon. Dieser Punkt im Weissbuch ist nichts anderes als Realitätsbewältigung. Grossbritannien beispielsweise ist kein Vollanwenderstaat des Schengener Abkommens. Deutschland z.B. nimmt freiwillig mehr Flüchtlinge auf als andere Mitgliedsländer. Manche Länder sind Mitglied der EU, aber zahlen nicht mit Euro. Andere wiederum haben den Euro eingeführt, aber das Schengenabkommen nicht unter-zeichnet. Das Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten gibt es schon seit man von Europa spricht. Die Deutschen dürfen ihre Autos auf den Autobahnen nach wie vor ausfahren, während wir hierzulande extrem viel PS für bescheidene Geschwindigkeit auf-wenden.

Das Kernproblem wird ignoriert
Bezeichnenderweise ignoriert Juncker das eigentliche Kernproblem der EU völlig, nämlich die Gemeinschaftswährung. Eine einheitliche Geldpolitik bei gleichzeitig massiven wirtschaftlichen Unterschieden zwischen den Mitgliedsländern funktioniert auf die Dauer einfach nicht. Die Maastrichter-Kriterien, also die Kontrollmechanismen, haben sich als Farce her ausgestellt. Und die seit Jahren ultra-expansive Geldpolitik der EZB mag für einzelne exportschwache Länder zwar angebracht sein, für Deutschland z.B. ist sie es aber sicher nicht.

Kommissionspräsident Juncker glaubt nicht an seine ersten beiden Szenarien, er wolle sie aber doch auflisten, damit sie wenigstens diskutiert werden können. Nur für den Euro gilt das anscheinend nicht. Dieser ist Tabu. Mag gut sein, dass die Europäische Union Frieden und Stabilität gebracht hat. Braucht es dazu aber eine Gemeinschaftswährung? Juncker und Co. kennen die Antwort: sie lautet Nein. Das ist so wie mit der Sommerzeit. Kaum jemand begreift, warum wir jedes Jahr zweimal die Uhr umstellen und doch tun wir es weiterhin. (Raiffeisen/mc/ps)

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