Kritik an Mays Brexit-Rede: «Neue Nebelkerzen gezündet»

Kritik an Mays Brexit-Rede: «Neue Nebelkerzen gezündet»
Grossbritanniens Premierministerin Theresa May.

London / Brighton – Nach der Grundsatzrede der britischen Premierministerin Theresa May hat der Streit um den EU-Austritt ihres Landes noch zugenommen. Politiker und Wirtschaftsvertreter auch aus Deutschland forderten deutlich konkretere Aussagen aus London. In der oppositionellen Labour-Partei brach erneut ein Brexit-Streit aus. Die nächste Verhandlungsrunde in Brüssel startet am Montag.

Zum Parteitag im südenglischen Brighton forderten Dutzende Labour-Mitglieder, darunter viele Parlamentarier, am Sonntag in einem öffentlichen Brief den Verbleib ihres Landes im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion. Labour sollte den Mut haben, eine «klare Alternative zum destruktiven Brexit» der Konservativen zu sein. Das Schreiben wurde in der Zeitung «The Observer» veröffentlicht.

Labour-Chef Jeremy Corbyn war schon zuvor vorgeworfen worden, sich zu wenig gegen den EU-Austritt gestemmt zu haben. Corbyn wird seine grosse Rede zum Abschluss des mehrtägigen Treffens am Mittwoch halten.

Gabriel: Enttäuschende Rede
Aussenminister Sigmar Gabriel bezeichnete Mays am Freitag in Florenz gehaltene Grundsatzrede als «enttäuschend. «Langsam läuft uns die Zeit weg», sagte Gabriel am Samstag in Wolfenbüttel. Über mögliche Übergangsfristen könne erst geredet werden, wenn neben der Schlussrechnung auch die Rechte der EU-Bürger in Grossbritannien und die Ausgestaltung der neuen EU-Aussengrenze zwischen dem britischen Nordirland und der Republik Irland geklärt seien. Ähnlich hatte sich zuvor Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron geäussert.

In ihrer Rede hatte May in Florenz eine etwa zweijährige Übergangsphase nach dem Brexit vorgeschlagen. Sie deutete an, dass London in dieser Zeit weiter in den EU-Haushalt einzahlen werde und so im Binnenmarkt bleiben könnte. Das soll «wertvolle Sicherheit» unter anderem für Firmen schaffen. EU-Ausländer sollen sich auch während der Brexit-Übergangsphase in Grossbritannien niederlassen dürfen.

Der Chef des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), Martin Wansleben, verlangte mehr Planungssicherheit für Unternehmen. «Frau May hat nur bei den Rechten der EU-Arbeitnehmer etwas Licht ins Dunkel gebracht. Zugleich hat sie neue Nebelkerzen gezündet. Noch immer wissen wir nicht, wie sich die britische Regierung ihre Übergangsphase von zwei Jahren vorstellt und was anschliessend folgen soll», sagte Wansleben der Deutschen Presse-Agentur.

Nach den Worten des Grünen-Chefs Cem Özdemir sind die konkreten Vorstellungen Londons nach wie vor unbekannt. Der europapolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Michael Stübgen, beklagte, dass Mays Rede keine neue Dynamik in die Gespräche bringen werde.

Moody’s stuft Grossbritannien ab
Die US-Ratingagentur Moody’s stufte unterdessen die Kreditwürdigkeit Grossbritanniens herab. Das Rating werde von «Aa1» auf «Aa2» gesenkt, teilte Moody’s mit. Die Aussicht für die Staatsfinanzen habe sich «erheblich verschlechtert», hiess es zur Begründung der Abwertung. Es seien steigende Schulden zu erwarten, der Erfolg von Konsolidierungsbemühungen sei fraglich. Die Probleme würden durch eine wahrscheinliche wirtschaftliche Abschwächung auf mittlere Sicht infolge des Austritts aus der EU verschärft.

Grossbritannien zahlt jährlich etwa zehn Milliarden Euro netto in den EU-Haushalt ein. Bei einer zweijährigen Übergangsphase müsste London demnach noch ungefähr 20 Milliarden Euro trotz Brexits einbringen. Das wäre nur ein Bruchteil der EU-Schätzungen für die Schlussrechnung – diese schwanken zwischen 60 bis 100 Milliarden Euro. Darin enthalten sind gemeinsam eingegangene EU-Finanzverpflichtungen für Haushalt, Fördertöpfe und Pensionslasten. EU-Diplomaten rechnen nach Informationen der Zeitung «Die Welt» damit, dass die endgültige Summe «erst ganz am Ende der Brexit-Verhandlungen festgelegt wird». Demnach werden 60 bis 70 Milliarden Euro für realistisch gehalten. (awp/mc/ps)

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