Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Wo ist die Deflation geblieben?

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Wo ist die Deflation geblieben?
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – Es ist nur wenige Monate her, dass uns das Deflationsgespenst im Nacken sass. Deflation war in aller Munde, wurde im Internet als Suchbegriff öfter gegoogelt als z. B. Inflation und das nur, weil etliche Geldhüter gebetsmühlenhaft jeden ihrer Auftritte dazu benutzten, vor der drohenden Deflation zu warnen. Davon dass es auch eine «gute Deflation» gibt, war nie die Rede.

Wie mittlerweile gewohnt, wenn es um verbale Geldpolitik geht, war auch in der Deflationsdebatte Mario Draghi an vorderster Front aktiv. Dabei versteht Otto Normalverbraucher gar nicht, was Deflation genau bedeutet und vor allem nicht, was das Schlimme an ihr ist. Das ist auch kein Wunder, denn wir hatten jahrzehntelang keine Deflation, – zumindest keine „böse Deflation“ und werden sie bis auf weiteres auch nicht haben. Der Konsument spürt schlichtweg nichts von der imaginären Bedrohung, die geldpolitisch motiviert zu einer beängstigenden Gefahr hochstilisiert wird. Deflation scheint eher ein Hirngespinst der Geldhüter zu sein, um weiter geldpolitisch experimentieren zu können, als eine tatsächliche Bedrohung. Wer am Ende des Jahres über 1 Prozent mehr Kaufkraft verfügt, ist sicherlich nicht bedroht und um diese Grössenordnungen geht es, wenn überhaupt.

Ist Deflation minus oder weniger plus?
Aber auch die Medien lassen sich vom Deflationshype erfassen und gehen sehr oberflächlich und allzu sorglos mit dem Begriff um. Drei Meldungen auf „www.n-tv.de“ unter dem Suchbegriff der Deflation bestätigen diese Einschätzung. Da warnt zunächst China vor Deflation und im Lauftext darunter heisst es weiter: „In China geht die Angst vor Deflation um – der Preiszerfall hat zu viel Tempo drauf“. Wer dann weiter liest, findet keinen Hinweis, wer ausser der Notenbank in China noch Angst hat, geschweige denn warum. Die Fakten sehen ja auch anders aus. Die offizielle Inflationsrate in China war zuletzt im Oktober 2009 negativ. Von Deflation dürfte also gar nicht die Rede sein. Man ist aber auch nicht mehr bei 6% Inflation sondern lediglich bei knapp 1.5%. Ist das Grund genug für Panikmache? Offensichtlich schon, denn unter Preiszerfall wird nicht das verstanden, was wir gemeinhin darunter verstehen würden, nämlich dass die Preise sinken, sondern lediglich, dass sie nicht mehr in dem Ausmass wie in der Vergangenheit zunehmen. Dazu wird nicht mal klar, auf welche Preise sich die Deflationsängste in China beziehen. Auf die Produzentenpreise vielleicht, die immerhin seit Anfang 2012 negativ sind? Das wäre noch nachvollziehbar. Aber wenn Notenbanken vor Deflation warnen, haben sie meist die Konsumentenpreise vor Augen, wenn nicht anders verlautbart. Und da genügt heute schon eine Null vor dem Komma, um die Zentralbanken in Panik zu versetzen. Die Gefahr scheint also tatsächlich eher imaginär denn real zu sein.

Schreckensszenario?
Die zweite Meldung im deutschen Nachrichtenportal zur Deflation stammt vom 10.3.2015 und bestätigt im Grunde, dass sich die Europäische Zentralbank (EZB) mit ihrem Kaufprogramm für Anleihen (QE) auf Kurs befinde, allerdings auch mit dem missverständlichen Untertitel „Geldschwemme gegen Deflation“. Diese Schlagzeile suggeriert, dass die Deflation schon Tatsache ist und QE beitrage, diese abzuwenden. Die dritte Meldung ist eine Woche jünger und immer noch falsch. „Europa entfernt sich von der Deflation“ hiess es am 17.3.2015 und dass die Verbraucherpreise in der Eurozone wieder anzögen. Wie man sich von etwas entfernen kann, dem man sich gar nie richtig genähert hatte, sei dahingestellt. Immerhin deutet die Ansage in der Schlagzeile ja eine Entspannung an. Im Text selbst kommt es dann aber doch noch mal dick, indem es heisst, das „wirtschaftliche Schreckensszenario einer Deflation sei vorerst (!) abgewendet“. Folglich also noch immer keine Entwarnung und vor allem nochmals die Erinnerung, dass Deflation ein Schreckensszenario begründe. Das ist schon höchst ungewöhnlich, vor allem wenn man sich den europäischen Arbeitsmarkt genauer ansieht. Dort hat das Schreckensszenario schliesslich schon längst Einzug gehalten, ohne Warnung.

Der japanische Patient war nie krank
Aber was ist mit Japan und seinem verlorenen Jahrzehnt? Überall – mangels Alternative – wird Japan als Paradebeispiel für die schlimmen Folgen der Deflation bemüht, dabei hält das einer näheren Prüfung auch nicht stand. Japan hatte zwar seit Beginn der Neunzigerjahre mit die tiefsten Teuerungsraten, oft nah bei null und manchmal auch negativ. Aber das ist zu wenig für das Schreckensszenario der „bösen Deflation“. Denn von einem Konsumstau wegen fallender Preise war Japan stets weit entfernt, allen Unkenrufen zum Trotz. Zwar legte die Wirtschaftsleistung in Japan in den letzten gut drei Dekaden gemessen am realen Bruttoinlandprodukt weniger stark zu als in den USA, pro Kopf verlief die Entwicklung aber mehr oder weniger ähnlich. Japan liegt viel zu weit weg von uns und ist uns einfach zu fremd, um wirklich zu verstehen, wie diese Gesellschaft tatsächlich funktioniert.

Da braucht es nicht viel, ein Vorurteil zu zementieren, das dann schnell als Wahrheit durchgeht. Dabei ist Japan lediglich eine alte, reife und wohlhabende Volkswirtschaft, die an Grenzen der Sättigung stösst, vor allem auf Grund der weit fortgeschrittenen Überalterung der Bevölkerung. Das steht in Europa erst noch an. Die demographische Falle ist nun mal eine Tatsache mit unerwünschten Folgen für den stetigen Wachstumsglauben. Die kann auch die Geldpolitik nicht wegwischen.

Verunsicherung durch Versicherung
Es gab sie mal, die schlechte Deflation, zuletzt Anfang der 1930er Jahre, was ein gehöriges Weilchen her ist. Damals galt der Goldstandard, weshalb die Geldmenge nicht beliebig gesteigert werden konnte, sondern nur bis zu dem Grad, an dem noch eine Golddeckung gewährleistet war. Tatsächlich lösten die damaligen Preiserosionen eine massive Konsumzurückhaltung aus und der Geldpolitik waren die Hände sozusagen gebunden. In Erwartung fallender Preise streikten die Konsumenten und verschoben ihre Anschaffungen auf einen späteren Zeitpunkt, zu dem sie viel günstiger würden einkaufen können. Ist das wirklich der aktuelle Zustand in der Eurozone oder gar in der Schweiz? Wenn dem so wäre, dann würde kaum jemand für das neuste iPhone Schlange stehen, da es ein halbes Jahr, nachdem es auf den Markt gekommen, garantiert günstiger zu haben ist und zwar nicht nur um 0.5%. Ich kenne jedenfalls niemanden, der seine Anschaffungen herauszögert, weil er auf fallende Preise spekuliert.

Keine Spur von Deflation an den Märkten Erwartungen abgeleitet aus Inflationsswap, auf 10 Jahre, in %

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Zum Glück verflüchtigt sich das vermeintliche Deflationsgespenst inzwischen wieder. Und das nicht dank Draghi, der die Umkehr der Inflationserwartungen in Europa gern als Erfolg seines monetären Dauerbeschusses verkaufen möchte, sondern wegen aufhellender Konjunktur und abnehmenden Basiseffekten, vor allem bei Rohstoffen – zuvorderst Öl. Dass uns Draghi und Co. monatelang versicherten, die grosse Gefahr der Deflation klopfe bereits an unsere Türe, hat nur eines ausgelöst: Verunsicherung – übrigens auch bei erfahrenen Marktteilnehmern. Kaum jemand verstand am Schluss noch, was das mit der Deflation eigentlich soll, besonders bei der Betrachtung der Kerninflation (ohne Rohstoffe und Saisonprodukte), die höchstens sporadisch in negatives Terrain vorstiess. Erst diese kategorische Versicherung, dennoch alles gegen das vermeintliche Gespenst zu unternehmen, hat zu Verunsicherung, allmählich aber auch zu Unverständnis geführt, zumal sich die Inflationserwartungen nie dermassen der Nulllinie genähert hätten, um das ganze Getöse zu rechtfertigen. Die Financial Times (FT) etwa findet die Begründung des QE mit dem Deflationsargument „lame“, also eine faule Ausrede. Dass scheint Draghi allerdings wenig auszumachen, solange ihm der Applaus der Finanzmärkte gewiss ist. Die FT kommt auch zum Schluss, dass sich die Aktienmärkte freuen können, Deflation hin oder her.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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