Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Es ist der Cocktail

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Es ist der Cocktail
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – Athen, Shenzhen, Yellen lautete der Titel unserer Anlagepolitik Ende Juni 2015. Wir wollten damit unserer gestiegenen Sorge Ausdruck verleihen, dass der sechsjährige Aufwärtstrend mehr als nur einen Dämpfer erfahren könnte. Und dies nicht aus einem einzigen Grund, sondern wegen eines generell zunehmenden Unbehagens der Märkte gegenüber einem Cocktail aus meist politischen Manövern. Athen kann man – zumindest vorübergehend – vergessen, die Märkte haben den teuren Kauf weiterer Zeit zähneknirschend hingenommen. China hingegen ist aktueller denn je und die amerikanische Notenbank trägt mit ihrem Zaudern auch zum negativen Marktsentiment bei.

Inzwischen herrscht kein Konsens mehr am Markt, dass keine Zinserhöhung das Beste für ihn wäre. Und nun rückt doch Europa wieder in den Fokus, genauer gesagt dessen Automobilindustrie. Das verspricht alles andere als einen ruhigen Herbst. Bringen zuletzt die Schummelmotoren die Börse zu Fall?

Ganz so ausgeschlossen ist dies nicht. Denn die Betrügereien sind eine weitere Zutat für den ohnehin explosiven Cocktail. Natürlich kann man argumentieren, die Aktien der namhaften Hersteller seien schon arg gerupft und angesichts der auch in Zukunft intakten Nachfrage nach individueller Mobilität wieder günstig bewertet – sprich eine Bodenbildung absehbar. Dagegen spricht aber einerseits die Dimension dieses Skandals und andererseits dass deutsche Hersteller betroffen sind. Und natürlich die Tatsache, dass der Markt in den vergangenen Wochen ohnehin schon mehrfach angezählt wurde.

Deutscher Industriemythos wankt
Ausgerechnet Deutschland, das dem Rest der Welt gern den moralischen Zeigefinger zeigt, sich selbst als besten Autobauer der Welt bezeichnet und das als Inbegriff fleissiger und ehrlicher Wertarbeit gilt. Dieses Image ist nun böse angekratzt. Dazu ist leider wahrscheinlich, dass sich die deutsche Praxis auch in anderen Ländern herumgesprochen hat und sich das VW-Schlamassel auf die gesamte (europäische) Branche ausweitet. Die Börse hat dies zum Teil schon vorweggenommen, indem sie sämtliche Werte der Branche in den Verkaufstopf warf und nicht etwa nur Volkswagentitel. Doch so lange das wahre Ausmass des Betrugsskandals nicht bekannt und deren Auswirkungen auf die Automobilhersteller ungeklärt ist, dürfte diese gewichtige Branche unter Druck bleiben. Die Nervosität wird also vorerst hoch bleiben. Unstete Tagesbewegungen, etwa von über 100 Punkten oder noch einigen mehr etwa beim SMI, sind ja schon fast normal, aber nun ist auch die Volatilität zurück und gestern kam es schon wieder zu einem massiven Kurszerfall. Das verheisst zumindest auf die kurze Sicht nichts Gutes.

Yellen muss es richten
Auch mittelfristig ist kein positiver Trigger ausfindig zu machen, der die Märkte wieder Richtung oben drehen könnte. Aus China dürfen frühestens zum Jahresausklang wieder besser Konjunkturmeldungen erwartet werden. Die europäische Wirtschaft entwickelt sich im Rahmen der Erwartungen verhalten positiv, hat aber wahrscheinlich wenig positives Überraschungspotenzial. Und so wird einmal mehr der amerikanischen Notenbank – höchst ungewollt zwar – die Rolle zukommen, die Märkte wieder zu stabilisieren. Egal ob Zins- oder Nichtzinsentscheid in diesem Jahr oder auch nicht, alles was die Federal Reserve in den kommenden Wochen tut, wird jeweils Schatten voraus werfen und recht unberechenbare Marktreaktionen auslösen. Wir werden im Lauf der Woche sehen, wie die Märkte allenfalls etwas schwächere Konjunkturmeldungen aus den USA aufnehmen werden. Der Jubel könnte sich in Grenzen halten, wenn die Ängste überwiegen, der Konjunkturzyklus dürfte schon zu weit fortgeschritten sein, um jetzt noch ein «Zinswendchen» herbeizuführen.

Die Heftigkeit der Korrektur darf eigentlich niemanden überraschen. Nach sechs Jahren Rekordjagd – nicht wenige Indizes hatten noch vor wenigen Monaten langjährige oder sogar historische Höchststände markiert – fragen sich die Märkte, ob sie des Guten nicht doch zu viel vorweggenommen haben. Denn wenn man es nüchtern betrachtet, waren die Bewertungen an den Märkten hoch und spiegelten keineswegs den realen makroökomischen Rahmen der Weltwirtschaft und die labile finanzpolitische Lage wider. Die Sicht darauf war im geldpolitischen Nebel lange Zeit versperrt. Nun, da sich dieser zu verflüchtigen beginnt, sind die Märkte ziemlich aufgeschreckt und suchen neuen Halt. Wo der liegt, lässt sich heute noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Dafür ist die Stimmung einfach zu schlecht und die Sicht noch nicht klar genug.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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