Kunsthaus Zürich: «Ich/Nicht Ich»

Kunsthaus Zürich: «Ich/Nicht Ich»

Alberto Giacometti, Selbstbildnis (Ausschnitt), 1921 Kunsthaus Zürich, Alberto Giacometti-Stiftung (© 2015 Succession Alberto Giacometti/ProLitteris, Zürich)

Zürich – Vom 27. November 2015 bis 28. Februar 2016 zeigt das Kunsthaus Zürich unter dem Titel «Ich/Nicht Ich» eine Ausstellung zum Thema Selbstporträt. Unter den 34 Gemälden, Plastiken, Grafiken, Fotos und Videos aus der Sammlung des Kunsthauses befinden sich Arbeiten von Chuck Close, Lovis Corinth, Urs Fischer, Giovanni und Alberto Giacometti, Urs Lüthi, Manon, Marianne Mueller, Arnulf Rainer, Gillian Wearing u.v.a.m.

Wer bin ich? Mögliche Antworten auf diese Frage gaben und geben Künstlerinnen und Künstler seit Jahrhunderten in ihren Selbstporträts. «Ich/Nicht Ich» widmet sich diesem Künstlerblick auf das Ich, auf die Schärfen und Untiefen der eigenen Existenz. Künstlerselbstbildnisse sind jedoch immer auch Inszenierungen, ein Spiegel dessen, was man von sich vermitteln möchte und eine Referenz an die eigene Zeit. Die zunehmend schonungslose Sicht auf das Selbst seit der Moderne prägt Künstlerinnen und Künstler bis heute bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Selbstporträt. So veränderte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts im Zug der Erforschung der Psyche und des technischen und gesellschaftlichen Wandels auch die Vorstellung dessen, was Identität ist. Seit den 1960er-Jahren wiederum steht nicht mehr die Erkundung des Ichs im Vordergrund, vielmehr wird der eigene Körper zum Mittel, um das Andere, das Fremde auszuloten und dafür an die Grenzen des Selbst zu gehen.

Ausgangspunkt dieser Ausstellung in der Reihe «Bilderwahl!» ist für die Gastkuratorin Daniela Hardmeier die Sammlung des Kunsthaus Zürich. Über das Zusammenspiel der in der Ausstellung gezeigten Werke, vornehmlich des 20. und 21. Jahrhunderts, entsteht so ein Dialog, der Fragen der Wahrnehmung, Ausformung und Brechung von Identität aufzeichnet.

Giovanni und Alberto Giacometti. Ich, Mensch und Künstler
Der Blick von Künstlern auf sich selbst offenbart neben dem idealisierten Selbstbild auch Krisen, Zweifel oder die Konfrontation mit den eigenen Grenzen. Der fixierende Blick sucht die eigene Hülle zu durchbrechen, um das Innere dingfest zu machen. In Giovanni Giacomettis Schaffen hat das Selbstbildnis, wie bei vielen seiner Zeitgenossen, einen hohen Stellenwert. In «Selbstbildnis» um 1913/14 zeigt er sich dem Betrachter als selbstbewusster Künstler, der seine Stellung gefestigt sieht. Herausfordernd betrachtet er uns über seine Schulter. Die Intensität des Blicks, die starken Farbkontraste und die eingefrorene Bewegung bestimmen dieses Bild. Demgegenüber ist das «Selbstbildnis» (1921) seines Sohnes Alberto von Zurückhaltung und Distanz geprägt. Dennoch setzt sich der erst Zwanzigjährige nicht minder selbstbewusst in Szene: Das formal strenge und überaus durchdachte Bildnis wird zum programmatischen Bild, das einerseits das Ende seiner Ausbildung beim Vater und andererseits seine zeitlebens anhaltende Auseinandersetzung mit der ägyptischen Kunst bezeugt. Nicht zufällig gleicht sein Gesicht dem berühmten Porträtkopf des Echnaton (um 1340 v.Chr.).

Chuck Close. Das fotografierte Ich
Erlaubt das gemalte Bild eine unmittelbare Reaktion des Künstlers auf das Gesehene, ist in der klassischen Fotografie kaum eine Rückkoppelung möglich. Sobald der Auslöser gedrückt ist, sind Ausdruck und Haltung des Modells unumkehrbar mit dem Abbild verknüpft, Eingriffe sind nur noch in der Entwicklung oder durch elektronische Nachbearbeitung möglich. In nüchterner Art, aber nicht emotionslos, richtet Chuck Close in seinem «Self-Portrait» (2000) den Blick auf das eigene Gesicht. In der Gleichbehandlung jeder Partie, Falte und Linie tastet die Kamera die Oberfläche dieses Kopfes ab. Aus der Dunkelheit erscheint so ein Individuum, das sich seiner selbst versichert und mit grosser Offenheit dem Betrachter entgegenschaut. Distanz und Nähe halten sich die Waage, Close lässt uns teilhaben an seiner Erforschung. Sein eindringlicher Blick mag auch damit zusammenhängen, dass er selbst an der Unfähigkeit leidet, Personen anhand ihres Gesichts zu erkennen.

Urs Lüthi. Mann oder Frau, ich oder der andere?
Parallel zu den gesellschaftlichen Veränderungen in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ändert sich auch der Blick auf das Ich. Über den eigenen Körper wird nicht mehr nur das Selbst, sondern auch das Andere erkundet, Ausprägungen von Geschlecht und gesellschaftlicher Rolle werden hinterfragt oder Extreme ausgelotet. Wenn Urs Lüthi von einer Welt träumt, in der «das Individuelle zum Allgemeinen wird, wo Ambivalenz eine Grundhaltung ist», so spricht er die tiefgreifende Gespaltenheit des modernen Menschen an. In seinem Diptychon «Selbstporträt» (1976) präsentiert er sich als verführerischer, androgyner Jüngling, aber ebenso als dessen Gegenteil. Die offensichtliche Travestie lässt den Betrachter gerne übersehen, dass Lüthi sich zum Stellvertreter stilisiert, der mit den Sehnsüchten, Geschichten und Problemen konfrontiert ist, die wir alle in uns tragen.

Gillian Wearing. Ich bin viele
Multiple Lebens- und Rollenverständnisse sind heute omnipräsent, das Diktum «Ich bin viele» gilt mehr denn je. «Ich» ist eine Leerstelle, die nach eigenen Prioritäten gefüllt wird, es ist ein selbst produziertes, variables Konstrukt. Gillian Wearing schlüpft in ihren Fotografien in die Rolle fremder Personen. Indem sie ihre Werke betitelt wie «Me as Sander» (2012) und reale Personen imitiert, übernimmt sie mit der Maske nicht nur die äussere Hülle dieser anderen Person, sie scheint sie sich regelrecht einzuverleiben. Dieses Besitzergreifen ist beinahe physisch spürbar und lässt den Betrachter erschauern. Wohin führt diese Aneignung? Zur Auslöschung des Eigenen oder des Anderen? Zur Verschmelzung zu einem neuen Ich? Dies alles sind Fragen, die sich in unserer hochtechnisierten und zunehmend virtualisierten Welt immer dringlicher stellen und der viele weitere Künstler in der Ausstellung nachgehen.

Künstlerische Antworten auf gesellschaftliche Umwälzungen
Über das Hauptwerk in der Reihe «Bilderwahl!» entscheiden die Mitglieder der Zürcher Kunstgesellschaft jährlich neu. 2015 war Alberto Giacomettis Selbstporträt der Favorit und wurde zum Ausgangspunkt der kuratorischen Arbeit. Die um das Werk des berühmten Schweizers versammelten Werke geben unterschiedliche künstlerische Antworten auf gesellschaftliche Umwälzungen: von der natürlichen, umweltvergessenen Selbstvergewisserung bis zum schillernden Spiegel einer Zeit, deren mannigfaltige Facetten in Form innerer und äusserer Erscheinungen am Selbstporträt ablesbar sind.

Eine Publikation (64 S., 35 Abb.), mit einem Text von Daniela Hardmeier ist am Kunsthaus Shop für CHF 14.- erhältlich. Sie liefert Hintergründe zur Ausstellung und eine Übersicht über die versammelten Werke aus der Sammlung. Öffentliche Führungen finden am 5. Dezember 2015, 13 Uhr und am 27. Januar 2016, 18 Uhr statt. (Kunsthaus Zürich/mc/ps)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert