Die Kehrseite der Zentralbankunabhängigkeit

Die Kehrseite der Zentralbankunabhängigkeit

Von Joachim Fels, PIMCO Global Economic Advisor (Foto: PIMCO)

München – Bei PIMCO haben wir gerade unser jährliches Secular Forum abgeschlossen, auf dem wir die Triebkräfte der Weltwirtschaft diskutieren und unseren Ausblick für einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren formulieren, einschliesslich der Risiken für dieses Basisszenario. Angeregt durch die freidenkerische, vorausschauende Debatte auf dem Forum möchte ich auf den Status eines Phänomens eingehen, das als gegeben gilt: Die Unabhängigkeit der Geldpolitik.

Zentralbankunabhängigkeit findet weitgehende Akzeptanz als notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Geldpolitik. Doch angesichts der politischen Stimmung in diesen Tagen und des Rückgangs der Inflation über die vergangenen Jahrzehnte könnte es durchaus sein, dass diese Unabhängigkeit infrage gestellt wird. Aber auch wenn das so sein sollte, ist dieses Szenario nicht so unheimlich, wie man meinen möchte.

Unabhängigkeit von der Regierung und vom politischen Geschehen ist offensichtlich hilfreich, wenn der Hauptfeind eine hohe Inflation ist, da sie die Glaubwürdigkeit einer Zentralbank stärkt und den Währungshütern dabei hilft, ohne politische Einmischung harte Massnahmen zu ergreifen. Ein Beispiel ist die „Paul Volcker Rezession“ der frühen 1980er-Jahre, die notwendig war, um der „grossen Inflation“ ein Ende zu machen.

Doch was geschieht, wenn der Hauptfeind nicht die Inflation ist, sondern Deflation, Schuldenüberhänge und Finanzkrisen – mit anderen Worten die Welt seit 2008? Kritiker weisen darauf hin, dass die Notwendigkeit oder der Wunsch, ihre Unabhängigkeit zu verteidigen, Zentralbanken oft daran hindert, diese Probleme zügig und möglichst direkt und effizient anzugehen – etwa mit Helikoptergeld oder Massnahmen eines Kreditgebers der letzten Instanz, um in Not geratene Finanzinstitute oder Staaten zu sponsern. Stattdessen mussten unabhängige Zentralbanken zweitbeste Massnahmen umsetzen wie die Quantitative Lockerung oder eine Negativzinspolitik, die Finanzmärkte verzerren und schwerwiegende Verteilungskonsequenzen haben können. Hierdurch wurden Zentralbanken letztendlich harter Kritik an zwei Fronten ausgesetzt – Kritik an der zweitbesten Politik mit ihren unvorhergesehenen Nebenwirkungen und schwindenden Renditen und Kritik an Entscheidungen, die laut Beobachtern gewählten Amtsträgern zukommen.

Die jüngere Vergangenheit
Es lohnt sich, daran zu erinnern, dass Zentralbankunabhängigkeit ein relativ neues Phänomen ist. In der überwiegenden Mehrheit der Fälle erhielten Zentralbanken der Industrienationen ihre Unabhängigkeit bei der Bestimmung der Geldpolitik erst in den 1980er- oder sogar erst in den 1990er-Jahren. Die Bank of England wurde 1694 gegründet, erhielt aber zum Verfolgen des – von der Regierung vorgegebenen – Ziels einer Inflation von 2% erst 1997 ihre operative Unabhängigkeit, also im Jahr 303 ihres Bestehens. Der Hauptgrund dafür, Zentralbanken unabhängig zu machen, war die Erhöhung der Glaubwürdigkeit der Geldpolitik, die nach dem Dahinscheiden des Goldstandards und der darauffolgenden grossen Inflation der 1970er- und frühen 1980er-Jahre die Inflationsbekämpfung zum Ziel hatte. Hohe und volatile Inflation war zum Hauptfeind der Wirtschaft geworden, und die Lösung bestand darin, die Geldpolitik ausschliesslich auf die Stabilisierung der Inflation auf niedrigen Niveaus zu fokussieren, wobei Unabhängigkeit das Erfüllen dieser Aufgabe leichter machte.

Doch es gibt eine Asymmetrie in der Geldpolitik, denn Zentralbanken können mehr tun, um die Inflation im Zaum zu halten, als sie tun können, um sie auf Trab zu bringen. Die Hauptprobleme von heute und sehr wahrscheinlich auch noch über einen längeren Zeitraum sind anhaltende disinflationäre oder sogar deflationäre weltweite Kräfte, Schuldenüberhänge im öffentlichen und privaten Sektor und das Potenzial für neue Finanzkrisen. Viele Beobachter fragen sich, ob Zentralbanken die Möglichkeiten der gewöhnlichen oder unkonventionellen Geldpolitik, die sie seit der Finanzkrise genutzt haben, ausgeschöpft haben. Einige dieser Beobachter könnten noch weiter gehen und sagen, dass Zentralbanken besser gerüstet wären, die Herausforderungen der heutigen Wirtschaft zu meistern, wenn sie in enger Zusammenarbeit mit und unter der Kontrolle einer demokratisch legitimierten Regierung agieren würden.

Ein Argument für die unmittelbare Einbindung und Verantwortung von Regierungen ist die Tatsache, dass viele Entscheidungen, die erforderlich sind, um die grössten Probleme von heute zu lösen, bedeutende Verteilungskonsequenzen haben und damit eher in den Bereich der Finanzpolitik als der Geldpolitik fallen. Man denke nur an die Entscheidung, ein grosses Finanzinstitut zu retten oder ein anderes untergehen zu lassen (da fallen einem viele Namen aus der Finanzkrise von 2008 bis 2009 ein). Man denke nur an die Entscheidung, die Rolle des Kreditgebers der letzten Instanz zu übernehmen (da fallen einem einige Namen aus der jüngsten Krise in der Eurozone ein). Oder man denke an die Entscheidung, im grossen Stil Vermögenswerten des öffentlichen und/oder privaten Sektors anzukaufen und negative Zinssätze einzuführen, um zu versuchen, die Inflation wieder auf das angestrebte Niveau zu bringen. All das sind schwere Entscheidungen für eine unabhängige Zentralbank, die dann, falls sie sie trifft, von denjenigen scharf kritisiert wird, die bei der daraus resultierenden Umverteilung verlieren.

Unabhängige Zentralbanken dienen auch oft als willkommene Sündenböcke für Politiker, die sich scheuen, selbst harte Entscheidungen zu treffen. Während der Krise der Eurozone schreckten Regierungen immer wieder davor zurück, die Staatsschulden- und Bankenkrisen ein für alle Mal mit fiskalpolitischen Instrumenten zu lösen. Sie verliessen sich vielmehr auf das Einschreiten der Europäischen Zentralbank, nur um anschliessend zu kritisieren, dass die Geldpolitik ihre Grenzen überschritten habe.

Das Ziel im Auge behalten
Wenn das (nahezu) Undenkbare wahr würde und Zentralbanken bei der Gestaltung ihrer Politik wieder der Aufsicht der Regierung unterstellt würden, was würde das unter praktischen Gesichtspunkten für die Wirtschaft und die Märkte bedeuten? Ein nahezu sofortiger Effekt wäre ein (derzeit willkommener) Anstieg der Inflationserwartungen, da die Regierung ihren Einfluss auf die Geldpolitik ausweiten würde. Ausserdem könnten Zentralbanken den gesamten Finanzsektor umgehen, indem sie die Regierung direkt mit frisch geschaffenem Geld ausstatten würden – zum Beispiel durch Gutschriften auf dem Konto der Staatskasse bei der Fed –, das die Regierung dann in Form von Steuernachlässen oder erhöhten Staatsausgaben an die Öffentlichkeit verteilen könnte – Helikoptergeld. Dies könnte eine viel direktere und effizientere Möglichkeit sein, ein Nachfragedefizit abzubauen und die Inflationserwartungen anzuheben, als auf die Quantitative Lockerung zurückzugreifen, bei der begehrte sichere Finanzwerte dem Markt entzogen werden – etwa Staatsanleihen oder hochwertige Unternehmensanleihen – oder eine Negativzinspolitik einzuführen, was ein Experiment mit ungewissem Ausgang ist.

Gewiss gibt es andere Wege, Helikoptergeld zu schaffen, als formal die Zentralbankunabhängigkeit abzuschaffen. Der frühere Fed-Vorsitzende Ben Bernanke hat einen sehr interessanten Vorschlag dazu gemacht, wie das funktionieren könnte. Im Wesentlichen besteht die Idee darin, dass die unabhängige Fed entscheidet, wie gross die Geldspritze sein muss, um die vorgegebenen Beschäftigungs- und Inflationsziele zu erreichen, und dann dem Konto der Staatskasse diesen Betrag gutschreibt. Dann wäre es Aufgabe der Regierung, dieses Geld auf die ihr geeignet erscheinende Art und Weise zu verteilen.

Die Probleme von heute ins Visier nehmen
Kritiker argumentieren, das Hauptproblem der Zentralbankunabhängigkeit bestehe darin, dass sie erfunden wurde, um ein Problem, nämlich hohe Inflation, zu lösen, das es heute gar nicht mehr gibt. Hindert ihre Unabhängigkeit die Zentralbanken daran, die direktesten und effizientesten Lösungen für die Probleme von heute zu verfolgen? Tatsache ist: Eine aggressive unabhängige Geldpolitik auf der ganzen Welt hat noch nicht für Inflation gesorgt, und die finanzpolitische Zeitschinderei hält an. Eine Union von Fiskal- und Geldpolitik könnte eine Option werden, wenn die Wirtschaft auf diesem Kurs bleibt. (PIMCO/mc/ps)

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