Matthias Zehnder: «Die Tücke der Lücke»


Nachdem wir die Attacken des Blaster-Wurms meist mehr oder weniger unbeschadet überstanden haben, macht man sich auch schon auf die Suche nach den Schuldigen. Ist es eine Hackergruppe, Microsoft oder gar der Anwender selber?


Von Matthias Zehnder

Kaum ist der gröbste Schaden abgewendet, den der Blaster-Virus hätte verursachen können, macht der Schwarze Peter fröhlich die Runde. Zuerst kriegte ihn die polnische Hackergruppe, welche das Sicherheitsloch in Windows aufgedeckt hatte. Dann kriegte ihn, natürlich, Microsoft, weil Windows überhaupt eine solche Lücke aufwies. Und dann kriegten ihn die Anwender zugeschoben, weil sie es verpasst hatten, diese kritische Sicherheitslücke mit dem entsprechenden Patch zuzustopfen.

Das eigentliche Problem wird dabei geflissentlich übersehen. Das Problem ist nämlich nicht das Loch in Windows, sondern das Loch im Wissen der Windows-Anwender: Die meisten PC-Besitzer wissen schlicht zu wenig über ihre Maschinen im speziellen und über die Technologie im Allgemeinen.

So mancher Computeranwender hat erst durch die Presseberichte über den Blaster-Virus überhaupt erst erfahren, dass er sein Betriebssystem regelmässig patchen muss. Und so mancher Manager hat (vielleicht) realisiert, dass es doch keine so gute Idee war, das IT-Support-Budget derart stark zusammenzustreichen. Ganz offensichtlich hat die Computerindustrie zwar Produkte verkauft, aber die Kunden nicht genügend über diese Produkte aufgeklärt.


«Es ist jedem Autobesitzer klar, dass er sein Auto regelmässig in den Service geben muss.» 


Denn bei anderen Geräten sind die Anwender durchaus in der Lage zu differenzieren. So ist jedem Autobesitzer klar, dass er sein Auto regelmässig in den Service geben muss. Beim Computer hat die Industrie es offenbar nicht geschafft, die Anwender entsprechend aufzuklären, sonst würden sie ihre PCs nicht wie Toaster behandeln.

Das eigentliche Problem ist also, dass das Wissen und Können der Menschen und die Möglichkeiten und Anforderungen der Technik immer weiter auseinanderklaffen. Das Problem ist also der so genannte educational Gap.

Diesen Gap kriegt die Industrie immer stärker zu spüren. Vom Mobiltelefonhersteller über den Mobilfunkcarrier bis zum Serviceprovider, vom PC-Hersteller über den Photodienstleister bis zum Spielentwickler haben nämlich alle Firmen dasselbe Problem: Es wird immer schwieriger, neue Produkte zu verkaufen. Grob gesehen lassen sich Produkte über zwei Mechanismen verkaufen: Über den Preis, dann handelt es sich um Commodity-Produkte, oder über neue Features. Die Industrie hat nun das Problem, dass immer weniger Menschen die neuen Features verstehen. Das ist fatal, denn wozu soll ich mir ein MMS-Handy kaufen, wenn ich nicht weiss, was MMS ist?


«Die Grundbedürfnisse wie Texte schreiben, E-Mails und SMS verschicken oder surfen, die sind abgedeckt.» 



Das Problem wird umso drängender für die ganze Industrie, als die meisten Grundanwendungen im Bereich Computer und Telekommunikation heute Commodityprodukte sind. Anders gesagt: Die Grundbedürfnisse wie Texte schreiben, E-Mails und SMS verschicken oder surfen, die sind abgedeckt. Das ist heute mit jedem simplen Gerät möglich. Damit der Markt wachsen kann, müssen die Menschen neue Features und Möglichkeiten entdecken – das machen sie aber nur sehr zögerlich, weil sie viele dieser Möglichkeiten schlicht nicht verstehen. Zwischen den Technologieanbietern und ihren Kunden klafft ein immer grösserer educational Gap.

Das Blaster Desaster hat uns diesen Gap ins Bewusstsein gerufen. Denn das Patch, das elektronische Pflaster also, mit dem man die Sicherheitslücke verstopfen konnte, lag fast einen ganzen Monat lang auf den Servern von Microsoft bereit. Bloss haben offensichtlich Millionen von Menschen das Patch nicht installiert, weil sie gar nicht wussten, dass sie ihre Systeme patchen mussten. Vielleicht rüttelt das die Technologiebranche etwas auf. Es wäre dringend nötig, dass die Branche die immer grössere Wissenskluft zwischen sich und ihren Kunden zu überbrücken beginnt. Entsprechende Rezepte wären vorhanden.


Der Autor 
Matthias Zehnder
 
Matthias Zehnder ist Technologiepubizist und Medienspezialist. Er arbeitet als Technologiekorrespondent für Radio DRS und verschiedene Tageszeitungen, führt das Internet-Magazin Smile und unterrichtet an der Universität Basel.Kontakt:
[email protected]
 
Letzte Kolumnen 
Wie gut muss gratis sein?
 
Nach dem Sunrise-Mail-Gau, den ich in der letzten Kolumne thematisierte, gab es eine angeregte Debatte über die «Fünfer und Weggli»-Mentalität der Internetbenutzer. Dürfen User wirklich erwarten, gratis und erst noch gut bedient zu werden? weiter… 
Sunrise-GAU – User wollen Fünfer und Weggli
 
Bei Sunrise sind die E-Mail-Daten von einer halben Million Kunden verloren gegangen. Der Super-GAU im Internet – mit fatalen Folgen für die User und das Image der Firma. Doch Konsumenten sollten wissen: Wer Gratis-Angebote nutzt, geht Risiken ein. weiter… 
Erfolg im Internet hat nur, wer aus der Masse hervorragt
 
Websites haben nur dann Erfolg, wenn sie sich radikal beschränken – auf ein Thema. Nur wer aus der Flut des Angebots herausragt wie ein Leuchtturm wird im Web überhaupt wahrgenommen.
weiter…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert