Die Sicht des Raiffeisen-Chefökomen: Besser statt mehr

Die Sicht des Raiffeisen-Chefökomen: Besser statt mehr
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – Die USA haben die Finanzkrise von vor zehn Jahren besser überwunden als die meisten Industrienationen, ja sogar gut – so jedenfalls der erste Eindruck. Seit geraumer Zeit sind sie nun unbestritten die Lokomotive des weltweiten Konjunkturzugs. Was indessen viele (noch) nicht wissen, ist dass dieser Aufschwung der schwächste der Nachkriegszeit ist. Führt man sich nun noch vor Augen, wieviel die USA in diesen Aufschwung wirtschaftspolitisch investierten, dann muss die Wirkung dieser Wirtschaftspolitik mehr als kritisch hinterfragt werden.

Sage und schreibe fast 800‘000‘000‘000 Dollar investierte die Administration Obama nach dem Debakel von Lehman Brothers in das vom Volumen her grösste Konjunkturprogramm aller Zeiten. Bekanntlich war das längst nicht alles, denn im Rahmen des sogenannten TARP (Troubled Asset Relief Program), das der Stabilisierung des von der Subprimekrise angeschlagenen Finanzsektors diente, wurden zusätzliche 700 Milliarden Dollar bewilligt, die später dann mit dem DoddFrank Act auf 475 Milliarden reduziert wurden. Letztendlich kostete TARP die US-Regierung 427 Milliarden.

Da diesen Ausgaben Einnahmen in Höhe von 442 Milliarden durch Aktienrückkäufe der Unternehmen bzw. Begleichung derer Darlehen gegenüberstanden, war die Bankenrettung gut zehn Jahre danach letztlich sogar ein „Erfolg“. So wie in der Schweiz, wo die UBS Rettung 2008 in der Retroperspektive von gewissen Kreisen sogar als Erfolgsgeschäft bezeichnet wurde. Dabei muss man doch nüchtern festhalten, dass sich kaum jemals ein privathaftender Investor mit ausreichend Substanz finden dürfte, der für eine dermassen bescheidene, wenn auch positive Rendite ein solches Klumpenrisiko eingehen würde. Mehr Impuls fördert nicht zwingend mehr Wachstum, so die Lehre, manchmal wäre etwas Besseres (oder Anderes) statt immer nur mehr vom Gleichen gefragt.

Sättigung in den USA…
Sei‘s drum, die USA scheinen wenigstens konjunkturell über dem Berg. Und sie sind wieder nahezu vollbeschäftigt. Zuletzt lag die Arbeitslosenquote bei 4.7% und damit auf dem tiefen Niveau des Jahresendes 2007. Zwar liegt die Erwerbsquote heute noch um einiges niedriger als damals. Nachdem sie aber vorübergehend sogar neue Tiefstwerte markiert hatte, steigt auch sie mittlerweile wieder an, wohl auch deswegen, weil die Löhne wieder zaghaft zulegen. Das heisst jedoch lange noch nicht, dass die Welt angeführt von den USA bald schon wieder den gewohnten Gepflogenheiten nachgehen können wird, nur weil die Wirtschaft die Intensivstation verlassen hat. Und was die USA kaum mehr wieder – und wenn überhaupt nur vereinzelt – erleben dürften, sind Wachstumsraten von über 5%. Zuletzt war dies im 2. Quartal 2000 der Fall und seitdem nie wieder.

…und selbst China
Offenbar stösst nicht nur die neue Welt mittlerweile an Grenzen des Wachstums, wie das auf dem alten Kontinent nun schon länger der Fall ist. Auch die jungen aufstrebenden Volkswirtschaften können sich diesem Trend des gesättigten Wachstums nicht entziehen. So sammelt beispielsweise auch China nun schon länger erste Erfahrungen mit diesem Phänomen, das hauptsächlich demographisch bedingt ist. Zwar nimmt die Erdbevölkerung zu, jedoch hauptsächlich in Ländern, die kaum entwickelt sind oder noch nicht so weit, wie ihre reifen Vorläufer. Unter dem Strich resultiert für die gesamte Weltwirtschaft ein tieferes Wachstumspotenzial. Und wie reagiert die Welt darauf? Mit den immer gleichen Konzepten eines Wirtschaftsstimulus über geld- oder fiskalpolitische Massnahmen und wenn die nichts mehr helfen, dann muss einfach noch mehr her, bis auch die letzten Verästelungen der Wirtschaft vor liquidem Stimulus nur so triefen. Allerdings versickert der grösste Teil dieser Liquidität in den Finanzmärkten. Die wuchsen dank der enthemmten Geldpolitik seit 2009 der Realwirtschaft komplett über den Kopf. Letztere hingegen schaffte es nicht einmal, die Potenzialwachstumserwartungen einigermassen zu bestätigen. Manche Mittel sind eben nicht mehr zeitgemäss.

Meditation statt reicher Kost
Bekanntlich hilft uns die Medizin, gegen die Alterung anzukämpfen. Wir werden tatsächlich immer älter, sind meist auch noch gesünder und sehen manchmal sogar noch ganz jugendlich aus – vermeintlich oder tatsächlich. Denn auch da hilft die Medizin nach. Die plastische Chirurgie ist allerdings nur wenigen Erdenbürgern vorbehalten und wird in alten, satten Volkswirtschaften, wo schon fast alle Bedürfnisse mehrfach befriedigt sind, auch nur von einer Minderheit nachgefragt. Denn die reifen Volkswirtschaften haben sich schon längst Richtung Spitze der berühmten Maslowpyramide emporgearbeitet. Lebensnotwendige Güter oder inferiore, wie die Volkswirtschaftslehre sie nennt, sind Güter, für welche wir immer weniger Anteile unseres (steigenden) Einkommens aufwenden, weil wir zusehends gesättigt sind und gar nicht mehr davon konsumieren können. Und die sind in der Maslowschen Bedürfnispyramide weit unten angesiedelt, so wie die Masse der Konsumgüter aber auch das Gros der persönlichen Dienstleistungen, wozu beispielsweise der Besuch beim Coiffeur gehört. Weiter oben auf der Pyramide finden sich zwar neue Dienstleistungen, wie die private Yogastunde oder Meditationsunterricht, doch entsprechen die keinem Grundbedürfnis mehr, weshalb es auch keine eigentliche Sättigung gibt. Doch allein daraus zu schliessen, das Wachstum sei deshalb unbegrenzt, ist völlig falsch. Nicht jedes (neue) Gut wird schlussendlich auch nachgefragt.

Viagra für die Wirtschaft
Dass Sättigung der wichtigsten Bedürfnisse eine Tatsache ist, lässt sich für die Schweiz exemplarisch schön belegen. Heute wendet der durchschnittliche Schweizer Haushalt noch rund 12% seines Einkommens für den Kauf von Nahrungsmitteln und Getränken auf – dreimal weniger als noch in den Sechzigerjahren der Fall. Dafür gehen wir heute dreimal mehr auswärts essen bzw. konsumieren Speisen und Getränke in Gaststätten anstatt zuhause. Kultur und Freizeit waren in den Sechzigerjahren faktisch keine Aufwandsposten für den durchschnittlichen Privathaushalt, heute sind sie eine Selbstverständlichkeit. Ebenso wie Spitalleistungen oder Medikamente, die früher nur in äussersten Notfällen nachgefragt wurden. Oder das Fliegen, einst ein Privileg weniger. Heute gibt es Billigflieger, die sich fast jeder leisten kann.

Wo man auch schaut in den hochentwickelten Volkswirtschaften, trifft man fast durchgehend auf Sättigung. Und das drückt natürlich auch die Wachstumsraten. Wenn nun selbst das WEF, lange ein wachstumsgläubiges Eliteforum, sich mit dem Phänomen der Sättigung auseinandersetzt und alternative Konzepte zur Messung des Wohlstandes ins Feld führt, dann lässt dies aufhorchen. Offenbar hat der begriffen, dass es gegen die wirtschaftliche Sättigung kein wirtschaftspolitisches Rezept der alten Konventionen gibt. Eine Art Viagra für die Wirtschaft könnte vielleicht Abhilfe schaffen, nur forscht man daran schon seit mehr als 20 Jahre ohne Erfolg. Im Detailhandel etwa, wo man z.B. das Happening pushte, um das Shopping nicht preisgeben zu müssen, um am Schluss dann festzustellen, dass der satte Konsument eben nicht stimulierbar ist für Mehrausgaben. Geil ist der Konsument schon lange nicht mehr, dafür aber sein Geiz.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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