Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Vorwand gesucht

Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Vorwand gesucht
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

Seit Anfang Jahr beginne ich meine Ausführungen an Auftritten vor Kunden mit dem Hinweis auf ein Märchen. Und zwar eines, das derzeit ganz viele Ökonomen erzählen, das Märchen vom Goldlöckchen, in dem ein Mädchen mit entsprechendem Haar die Hauptrolle spielt.

Die Metapher des Goldlöckchens steht in der Wirtschaft für ein ideales und intaktes Umfeld. Wieso das so ist, erörtert das Märchen ziemlich gut. Goldlöckchen verirrt sich da in den Bau dreier Bären. Es isst deren Brei. Der eine Brei ist zu heiss, der andere zu kalt, der letzte aber genau richtig ist. Danach probiert Goldlöckchen die Stühle und Betten der Bären aus. Der dritte Stuhl bzw. das dritte Bett passen jeweils bestens. Alles passt also perfekt für Goldlöckchen.

Genauso steht es zurzeit um die Wirtschaft. Fast alles passt (zusammen), es hat weder zu viel noch zu wenig Zutaten für ein Goldilockszenario. Das Wachstum ist moderat stabil, die Inflation kein Thema und die Zinsen sind auf einem ansprechend tiefen Niveau. Das alles entzückte die Börsianer noch bis vor kurzem äusserst. Besser kann es schliesslich auch fast nicht gehen. Doch seit Ende Januar genügt das den Märkten offenbar nicht mehr. Wie – wenn überhaupt – lässt sich da erklären, dass etliche Börsen ausgerechnet jetzt ins Minus gerutscht sind und die schon fast totgeglaubte Volatilität sich zurückgemeldet hat? Die Volatilität ist ja nicht weniger als ein Gradmesser für die an den Märkten herrschende Nervosität. Woher kommt also nun die Verunsicherung?

Fragen Sie nicht den Spezialisten
Dazu fragt man doch am besten die Spezialisten. Nur wird man bei denen kaum fündig auf der Suche nach den Gründen für die jüngsten Börsenturbulenzen. Viele sind sicherlich auf dem falschen Fuss erwischt worden. Denn zum Jahresbeginn neigen fast alle dazu, die Zukunft viel zu rosig zu sehen. Das gilt in gut sieben von acht Fällen. Zu skeptisch sind Analysten höchstens dann, wenn sie durch einen Crash überrascht wurden. So wie Ende 2008 etwa, als alle vom Lehman Debakel überrascht wurden und kaum jemand empfahl, 2009 im grossen Stil in Aktien zu investieren. Dabei wäre gerade ein Einstieg damals ein hervorragender Tipp gewesen. Deutsch oder US-amerikanische Aktien (Dax oder Dow Jones) haben sich seit da im Wert inklusive Dividenden fast vervierfacht. Selbst im SMI, dem Schweizer Börsenbarometer das ohne Dividenden berechnet wird, wären pro Jahr seit dem Tiefpunkt im März 2009 fast 10% jährlich rausgesprungen.

Seit seinem Höhepunkt am 24. Januar 2018 hat der SMI aber inzwischen fast 13% verloren. Und selbst in den USA ist etwas Sand im Börsengetriebe. Und was sagen nun die Spezialisten dazu? Im Tenor werden die Korrekturen als Betriebsunfall abgetan, als normale Gewinnmitnahmen, vorübergehender Marschhalt vor dem Erklimmen neuer Höhen. Es wird zudem mit der Markttechnik argumentiert oder jeder auch noch so kurzfristige Wirtschaftsindikator als möglicher Trigger für Korrekturen genannt. Auch geopolitische Ereignisse werden genannt. In Tat und Wahrheit kann mir aber keiner vormachen, er wisse den tatsächlichen Grund. Menschen suchen aber nun mal nach einem Vorwand für Ereignisse, auch solche, die sie nicht kommen sahen oder nicht erklären können. Der wahre Grund liegt einzig in der Psychologie der Marktteilnehmer. Und die ist mindestens so willkürlich wie undurchschaubar.

Die Realität sieht anders aus
Zu diesem Schluss gelange ich vor allem deshalb, weil es für die Kursavancen seit 2009 höchstens in der Retrospektive Erklärungsansätze gibt. Im Grunde gibt es sogar nur einen einzigen Erklärungspunkt, namentlich die Geldpolitik. Wiederholt habe ich auf die Gefahren der offenen Geldschleusen hingewiesen. Die expansive Geldpolitik hat in den letzten fast zehn Jahren nicht nur ein Marktsignal nach dem anderen ausgeknipst, sondern die Markteilnehmer in eine Komfortzone verfrachtet, in der sie sich in vollständiger Sicherheit wähnten. Eurokrise, Ukrainekonflikt, Wahlen in Europa oder den USA mit dazumal ungewissem und auch nicht immer von der Börse favorisiertem Ausgang, Sturmfluten, Säbelrasseln mit Nordkorea und was alles noch für Unwägbarkeiten die letzten Jahre im Raum standen, nichts konnte den Börsenzug stoppen – Geldpolitik sei Dank. Selbst enttäuschende Daten aus der Wirtschaft oder von der Konjunkturfront vermochten die Euphorie nicht zu stoppen. Und ausgerechnet jetzt, da Goldlöckchen die Wirtschaft dominiert und kaum kurszersetzende Neuigkeiten zirkulieren, kommt die Börse ins Stottern.

Das kann ja fast nur an der Geldpolitik liegen, auch wenn Handelskrieg oder andere strube Erklärungen die Runde machen. In den Köpfen der Marktteilnehmer macht sich die Skepsis sogar breit, noch bevor die Geldhüter überhaupt aktiv werden. Wer Goldlöckchen zu Ende gelesen hat, weiss, dass die Bären früher zurückkamen, als Goldlöckchen lieb war und sie unsanft aus dem Schlaf erwachte. Sie kam zwar davon, aber dieses abrupte Erwachen wird sie wohl bis an ihr Lebensende geprägt haben. Ganz so schlimm geht es den Aktienmärkten schon nicht. Sie scheinen aber aus ihrem Jahre dauernden Sekundenschlaf zu erwachen und zu begreifen. Negativzins, Geldflut, Devisenmarktinterventionen schön und gut, aber die ökonomische Realität sieht anders aus. Guten Morgen Wallstreet und Co.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

Raiffeisen

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