Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Am Datentropf

Martin Neff

von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

Von Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – Warum nur glauben wir so fest an Zahlen, obwohl wir doch wissen, dass die oft falsch sind und laufend revidiert werden? Erst Ende September war es mal wieder so weit. Einer Revision der Jahresergebnisse der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung hätten wir zu verdanken, dass unsere Wirtschaft zwischen 1995 und 2013 um fünf bis sechs Prozent mehr gewachsen sei als ursprünglich angenommen, teilte das Bundesamt für Statistik mit. Über Nacht sechs Prozent wohlhabender, das sind doch mal „good news“.

Wir haben im Schnitt also mehr Geld als wir ursprünglich dachten. Und seit Ende September wissen wir, dass es etwa sechs Prozent mehr sind. Schon eigenartig, was die Statistik uns da vorgaukelt. Einfach so sechs Prozent mehr? Wenn ich das damals schon gewusst hätte, hätte ich dann nicht auch etwas mehr ausgegeben über all die Jahre? Das ist natürlich Unsinn, und wer sich durch die Pressemitteilung des Bundesamtes arbeitet, stellt schnell einmal fest, dass es sich bei dem Plus von sechs Prozent vor allem um buchhalterische Anpassungen handelt, die mit technischen Begriffen erklärt werden wie „Änderungen im konzeptuellen Bereich sowie auf dem Gebiet der Berechnungsmethoden und der Datengrundlagen“. Und damit, dass Aufwendungen für Forschung und Entwicklung neuerdings als Investitionen verbucht werden anstatt als Vorleistungen. Für den Normalbürger ist eine solche Meldung schwer zu verstehen, wie vieles aus der Wirtschaftsstatistik. Vor allem stellt sich aber die Frage, was gross anders gewesen wäre, wenn das Wachstum um sechs Prozent überschätzt worden wäre?

Punktprognose wird schnell zu Vorspiegelung falscher Tatsachen
Auch wenn das zum Job gehört, sträube ich mich genau aus diesem Grund immer mehr dagegen, punktgenaue Prognosen abzugeben. Denn die Basis, von der aus wir Ökonomen das Wachstum sogar quartalsweise zu prognostizieren versuchen, ist leider keine gute Basis, wenn sie fortlaufend angepasst wird. Eine Punktprognose wird damit sehr schnell zu einer Vorspiegelung falscher Tatsachen. Aber trotzdem möchte alle Welt auf die Kommastelle genaue Daten zum Wachstum einer Volkswirtschaft. Zumindest die Welt der Finanzmärkte und der Finanzbuchhaltung und sei es nur für die alljährliche Budgetierungsrunde.

Ob Wirtschaftswachstum aber wirklich noch mit höherem Wohlstand gleichzusetzen ist, scheint mir zumindest in unseren wirtschaftlich hoch entwickelten Breiten fragwürdig. Jeder Verkehrsunfall erhöht unseren Wohlstand, genauso wie Drogen- oder Alkoholmissbrauch zum BIP-Wachstum beitragen. Jede Naturkatastrophe steigert das  Bruttosozialprodukt und damit den rechnerischen Wohlstand. Dabei lässt sich der entscheidende Teil unseres Wohlbefindens doch längst nicht mehr mit Zahlen ausdrücken. Wenn sämtliche Grundbedürfnisse gestillt sind und fast alle materiellen Bedürfnisse befriedigt, werden die berühmten immateriellen Werte bekanntlich wichtiger. Von jedem Franken, den wir zusätzlich verdienen, geben wir daher auch immer weniger für Konsumzwecke aus. Unsere marginale Konsumquote, wie die Fachsprache dazu sagt, sinkt und zwar kontinuierlich.

Weniger ist mehr
Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der die Eltern ihren Kindern wünschten, dass es denen einmal besser geht als ihnen selbst. «Besser» war in der Welt meiner Eltern fast ausschliesslich materiell definiert. Höheres Einkommen, grössere Wohnung, grösseres Auto, teurere Möbel, teurerer Urlaub und von vielem einfach mehr. Das ist ganz ehrlich gesagt nicht mehr das, was ich meinen Kindern als erstes wünsche. Anstatt mehr wünsche ich ihnen einfach „nur“ genug, denn wie wir alle wissen, brauchen viele von uns gar nicht mehr. Wir hätten vielleicht gern mehr, aber brauchen es nicht wirklich. Materielle Sättigung ist aber in der wachstumsgläubigen neoliberalen Welt ein Fremdkörper. Dort gibt es immer neue Bedürfnisse, die es zu befriedigen gilt und kein Wirtschaftswachstum ist schlichtweg nicht vorstellbar. Da passt es nicht ins Konzept, dass heute oft von weniger anstatt mehr die Rede ist. Zum Beispiel träumen die einen davon, weniger zu arbeiten. Für mehr freie Zeit sind sie sogar bereit, Einkommen preiszugeben. Ein kleinerer Wagen tut es schliesslich auch und die Wohnung ist sowieso zu gross. Andere richten ihre Konsumgewohnheiten nach dem Motto aus: „weniger ist mehr“. Und wieder andere messen ihren Wohlstand ausschliesslich am individuellen Wohlbefinden. Das sind natürlich Konzepte, die dem Wachstumsglauben diametral entgegenstehen. Aber vielleicht sollten wir tatsächlich umdenken und uns nach einem neuen Wohlstandsmass umsehen. Wenn wir nicht mal einmal mehr merken, dass wir sechs Prozent wohlhabender werden, scheint das an der Zeit. (Raiffeisen/mc/ps)

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