Simon Lutz, CEO Aprioris, im Interview

Simon Lutz, Geschäftsführer aprioris AG. (Foto: zvg)

von Patrick Gunti

Moneycab.com: Herr Lutz, das Schweizer Gesundheitssystem gilt als eines der besten weltweit. Doch trotz hoher Versorgungsqualität und medizinischer Standards gibt es zahlreiche strukturelle und finanzielle Spannungsfelder, die sich zusehends verschärfen. Wie beurteilen Sie die Situation?

Simon Lutz: Überlastete Notfallstationen und überbuchte Hausarztpraxen – dieses Problem ist uns allen bekannt. Es gibt immer weniger Hausärztinnen und Hausärzte, dies bei gleichzeitig steigender Nachfrage. Dies führt in einigen Regionen der Schweiz bereits heute zu Versorgungslücken. Gleichzeitig ist bekannt, dass in vielen Situationen Arzt- und Notfallbesuche unnötig sind und viele Fälle auch ohne direkte ärztliche Intervention gelöst werden könnten und immerhin belasten schätzungsweise 1,8 Millionen «Bagatellfälle» pro Jahr das Gesundheitssystem. Bestehende Strukturen sind zunehmend nicht mehr in der Lage mit häufigen, einfachen medizinischen Themen umzugehen. Dies führt zu Mehraufwendungen der Patientinnen/Patienten im System und bindet knappe und wertvolle Ressourcen.

Welche Herausforderungen gehen Sie mit Aprioris an?

Die genannten Probleme führen zu Mehraufwendungen der Patientinnen/Patienten im System und bindet knappe und wertvolle Ressourcen. Telemedizin hat hier erste Lösungsansätze geliefert – aber eine zentrale Möglichkeit ist noch ungenutzt geblieben: die Möglichkeit nicht bloss der Triage oder der Beratung, sondern der Untersuchung und Behandlung über eine Delegation ärztlicher Leistung und die Einbindung einer anderen Fachkompetenz für diese Aufgabe. Das liegt im Wesentlichen daran, dass eine Delegation aufgrund regulatorischer und standespolitischer Fragen bisher als unmöglich angesehen wurde und technische Möglichkeiten für eine Umsetzung nicht verfügbar waren. Da haben wir angesetzt und haben ein Modell entwickelt das ein vielschichtiger Problemlöser ist.

Konkret?

Aprioris ist eine niederschwellige Anlaufstelle für Menschen mit einfachen medizinischem Anliegen, auch für diejenigen welche keinen Hausarzt haben. Unser Modell entlastet Grundversorger:innen und Spitalnotfälle. Wie verfolgen einen Ansatz, der zusätzliche Versorgungskapazität in der Grundversorgung schafft, ohne dass etablierte Kompetenzgrenzen verändert werden. Ausserdem nutzen wir Pflegekompetenz: gefördert wird ein zukunftsfähiges, attraktives Berufsbild – mit guten Arbeitskonditionen im Rahmen der Pflegeinitiative. Und: all dies, ohne das Gesundheitssystem zusätzlich zu belasten, weil die auf diese Weise abschliessend behandelten Fälle durch die für diese Fälle fokussierten und schlanken Abläufe in Summe weniger Kosten verursachen.

«Aprioris ist eine niederschwellige Anlaufstelle für Menschen mit einfachen medizinischem Anliegen, auch für diejenigen welche keinen Hausarzt haben.»
Simon Lutz, CEO Aprioris

Gab es anfangs – oder gibt es heute – Vorbehalte gegenüber dem Modell von Patienten, Versicherern oder Behörden?

Mit Aprioris entsteht eine «neue Kategorie» im Bereich der niederschwelligen medizinischen Versorgung im Gesundheitswesen, welche es in diese Form bis dahin noch nicht gegeben hat. Solche Neuerungen führen immer zu Fragen und Vorbehalten. Es ist ein neues Terrain, auf welches sich alle involvierten Akteure begeben: Behörden, Versicherer andere Leistungserbringer und auch Patient:innen; das braucht einfach Zeit und auch ein Umdenken. Die anfängliche Skepsis verschwindet jedoch zunehmend und unser Angebot erfreut sich einer immer grösseren Nachfrage. Auch im standespolitischen Dialog stellen wir fest, dass erkannt worden ist, dass es neue Ansätze braucht. Das Momentum und die Zeit spielt Aprioris positiv in die Karten.

«Mit Aprioris entsteht eine «neue Kategorie» im Bereich der niederschwelligen medizinischen Versorgung im Gesundheitswesen, welche es in diese Form bis dahin noch nicht gegeben hat.»

Was unterscheidet Aprioris von einer klassischen Hausarztpraxis oder einem Walk-in-Zentrum?

Aprioris ist keine Hausarztpraxis. Wir sind zwar, zwischenzeitlich in vier Kantonen, als solche bewilligt, doch Aprioris ist eine Soforthilfe-Praxis. Wir bezeichnen uns als «Vorzimmer zum Hausarzt». Patient:innen, die eine Aprioris-Praxis aufsuchen, finden dort hochqualifiziertes diplomiertes Pflegepersonal vor, das sich um Untersuchung, Behandlung und Beratung kümmert. In den meisten Fällen können einfache und häufig auftretende medizinische Probleme abschliessend behandelt werden. Ärztliches Personal wird nur bei Bedarf, vorwiegend für die Validierung, Rezepte und weiterführenden Abklärungen einbezogen. Die Gesamtverantwortung für alle medizinischen Angelegenheiten liegt aber stets bei einem für jeden Standort fest zuständigen Facharzt von Aprioris.

Welche medizinischen Anliegen decken Sie ab? Mit welchen Beschwerden suchen Patienten Aprioris-Standorte auf?

Aprioris kann bei einfachen und häufigen medizinische Beschwerden helfen. Das kann sein: Harnwegsinfekt, Durchfall, Grippesymptome, Ohrspülungen, Nachimpfungen u.v.m. Am Ende kommt die Patientin / der Patient mit einem bestimmten Problem zu Aprioris. Es liegt dann am Fachpersonal vor Ort zu entscheiden, ob geholfen werden kann oder ob die Patientin oder der Patient an eine andere Stelle überwiesen werden muss – das ist zum Beispiel bei komplexeren Fragen und Beschwerden der Fall. In einer solchen Situation stellt man gleich zu Beginn sicher, dass keine Leerläufe oder Doppelspurigkeiten entstehen.

Auf den ersten Blick ist das ein sehr ähnliches Dienstleistungsangebot wie verschiedene Apotheken auch anbieten. Unsere Untersuchungen und Behandlungen decken jedoch ein wesentlich breiteres Spektrum ab. Der Fokus liegt dabei bei der Ursachensuche und Behandlung und nicht nur bei der Symptombekämpfung. Das ist auch einer der Gründe, weshalb fortschrittliche Apothekerinnen und Apotheker auf Aprioris zugegangen sind und die ideale Konstellation auf einem interprofessionelles Vorgehen beruht.

Vor Ort treffen Patienten auf ausgebildete Pflegefachpersonen. Welche Kompetenzen und Befugnisse haben diese konkret?

Bei Aprioris arbeiten hochqualifizierte Pflegefachpersonen mit mehrjähriger Erfahrung im Notfallbereich. Die Fachperson vor Ort ist in Delegation des jeweiligen Standortarztes tätigt und kümmert sich um die Anamnese, Behandlung und Beratung. Dabei hält sie sich an ärztlich validierte Prozesse welche die Leitplanken bilden für jedes Krankheitsbild, welches bei Aprioris behandelt wird.

«Bei Aprioris arbeiten hochqualifizierte Pflegefachpersonen mit mehrjähriger Erfahrung im Notfallbereich.»

Wie läuft ein typischer Patientenkontakt ab – vom Eintritt bis zum Abschluss?

Begrüssung – Stammdatenaufnahme – Anamnese – Untersuchung – Behandlung – Beratung – und dann Dokumentation der Konsultation, Weiterleitung der Informationen an andere behandelnde Leistungserbringer und dann auch administrative Nachbearbeitung und schliesslich, je nach Fall Nachkontrolle an einem der folgenden Tage.

Wann wird ein Arzt oder eine Ärztin zugezogen?

Das Ärzteteam definiert, welche Krankheitsbilder delegierbar sind und erstellt die entsprechenden Standard Operating Procedures dazu. Das Ärzteteam stellt während den Öffnungszeiten den Hintergrunddienst sicher. Direkt wird das Ärzteteam beigezogen, wenn die Untersuchung oder Behandlung die Grenzen der definierten und validierten Prozesse überschreitet und bei allen Elementen, die unabhängig vom Instrument der Delegation der ärztlichen Kompetenz vorbehalten bleiben. Indirekt wird jeder einzelne Arztbericht vom Ärzteteam validiert und freigegeben.

Wie viele Menschen werden täglich versorgt?

Pro Standort können etwas über 12 Personen pro Tag behandelt werden. Aktuell liegt die Auslastung über alle Standort durchschnittlich noch bei unter 10 Behandlungen. Dabei ist der Zugang noch an die Öffnungszeiten der Apotheke angelehnt, da Aprioris als selbständige Einheit bei einer Apotheke das Gastrecht geniesst bzw. eingemietet ist.

Wie finden Sie genug qualifiziertes Pflegepersonal in einem ohnehin angespannten Arbeitsmarkt?

Viele Pflegefachpersonen verlassen ihren Beruf, weil Sie zunehmend nicht mehr das anwenden können was sie ursprünglich veranlasst hat, diesen Beruf zu wählen und weil die Belastung und Arbeitsbedingungen nicht mehr zumutbar sind. Bei Aprioris ist ein Angebot definiert worden, welches bei der Berufsgruppe Pflege auf sehr grosses Interesse stösst und über das inzwischen aufgebaute Netzwerk kann mit relativ geringem Aufwand kompetentes und motiviertes Fachpersonal gefunden werden.

Mittlerweile gibt es vier Aprioris-Anlaufstellen in Zürich, weitere in Winterthur, Amriswil, Baden und neuerdings auch in Bern. In welchem Umfeld befinden sich diese Praxen?

Mittlerweile betreiben wir neun Standorte. Davon fünf als shop-in-shop in Apotheken, zwei unmittelbar angrenzend an eine Apotheke sowie zwei Standorte als «stand-alone».

Welche Standorte oder Regionen stehen als Nächstes an?

Aprioris hat das Glück, dass wir viele passive Leads generieren, das heisst, dass viele Ideen und Anfragen für Standorte an uns herangetragen werden. Zum Beispiel von unternehmerischen Apotheker:innen, die eine Zusammenarbeit suchen, aber auch von Gemeinden, welche rasch Lösungen benötigen, damit der Zugang zur Grundversorgung für Ihre Bevölkerung weiterhin gewährleistet ist.

Für weitere Standorte sind zur Zeit in Vorbereitung: Luzern, Basel, Regionen im Kanton Aargau und in der Ostschweiz, aber auch Projekte in der italienischen und französischen Schweiz. In welcher Reihenfolge die Standorte eröffnet werden, hängt von vielen Faktoren ab. Ziel ist, dass Aprioris in der ganzen Schweiz mit ihren Standorten präsent sein kann und für die Bevölkerung ein qualitativ guter und angemessener Zugang für die betreuten einfachen und häufigen Fälle verfügbar ist. Über diesen Ansatz kann gleichzeitig auf drei Ebenen ein positiver Beitrag geleistet werden: für Patient:innen, Akteure und für das System als Ganzes.

«Unser Wohlstand, die demografische Entwicklung, die Zuwanderung und insbesondere unser «All Inclusive-Gedanke» werden wohl dazu führen, dass die Gesundheitskosten weiter steigen werden.»

Wie sieht das Schweizer Gesundheitssystem Ihrer Meinung nach in zehn Jahren aus – und welche Rolle soll Aprioris dabei spielen?

Unser Wohlstand, die demografische Entwicklung, die Zuwanderung und insbesondere unser «All Inclusive-Gedanke» werden wohl dazu führen, dass die Gesundheitskosten weiter steigen werden. Was ich als sehr grosse Herausforderung sehe, ist, dass eine grosse Zahl an Fachkräften fehlen wird – sowohl in der Medizin als auch in der Pflege. Deshalb wird es zentral sein, dass Ressourcen richtig eingesetzt sind und das Gesundheitssystem der Zukunft muss zwingend integriert und durchgängig vernetzt sein.

Um hier sinnvolle Wege zu schaffen ist es notwendig, dass man sich auf Seiten Behörde von starren Denkmustern, Strukturen und Vorgaben verabschiedet, und regulatorische Rahmenbedingungen schafft, die die richtige Balance zwischen Sicherung von Versorgungsqualität und bedürfnisgerechter Innovation zulässt.

Aprioris sehe ich als nachhaltiges Modell, welches im ganzen Lande zugänglich sein wird, positive Impulse und einen in der Versorgungskette ergänzenden Beitrag liefert – nicht zuletzt auch im Rahmen von einem integrierten Versorgungsmodell. Bereits heute arbeiten wir mit innovativen Krankenversicherungen an solchen Modellen.

Aprioris

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