von Helmuth Fuchs
Moneycab: Herr Wüst, ti&m beschäftigt aktuell über 550 Mitarbeitende an sechs Standorten in der Schweiz, in Deutschland und Singapur. Wo will ti&m in Zukunft wachsen und wo werden Sie in den nächsten Jahren am meisten investieren?
Thomas Wüst: Entlang unserer Strategie bleiben wir ein End-to-End-Anbieter entlang der gesamten IT-Wertschöpfungskette – von der Beratung bis zur Umsetzung. Thematisch liegt unser Fokus auf künstlicher Intelligenz. Nach der ersten Welle von KI-Anwendungen, die vor allem auf den Einsatz von Unternehmensdaten in Chatbots abzielten, entwickeln wir heute vermehrt Agentic-AI-Lösungen. Dabei geht es um die Automatisierung ganzer Prozesse und die Orchestrierung von Folgeaktionen in unterschiedlichen Systemen.
Ein zweites zentrales Thema ist die digitale Souveränität: Wir wollen unsere Kunden mit Beratung und Lösungen dabei unterstützen, ihre Datenhoheit zu sichern und die Abhängigkeit von Big-Techs zu reduzieren. Hier setzen wir konsequent auf Open Source – sowohl in Kundenprojekten als auch bei der Weiterentwicklung unserer eigenen Produkte. Ein Beispiel ist unsere Plattform Open Datastack, die auf offenen Komponenten basiert und dank offenem Quellcode Vendor-Lock-ins vermeidet. Wir verantworten auch den Betrieb: entweder auf den Servern der Kunden, unseren eigenen Rechenzentren oder in jeder anderen Cloud.
«Wir sind überzeugt, dass Themen wie künstliche Intelligenz und digitale Souveränität auf Basis von Open Source in den nächsten Jahren die attraktivsten Margen generieren werden.» Thomas Wüst, CEO ti&m
Ebenso investieren wir stark in Cybersecurity und Digital Trust. Mit der Öffnung hin zu neuen Ökosystemen vergrössert sich zwangsläufig auch die Angriffsfläche. Wir begegnen diesem Risiko mit ganzheitlichen Sicherheits- und Vertrauenskonstrukten, die Technologie mit regulatorischen Anforderungen verbinden.
Seit unserer Gründung sind eigene Produkte fester Bestandteil unserer Strategie: unsere Mobile- und E-Banking-Lösung ti&m Banking sowie ti&m Banking Integration und ti&m Open Banking, zwei standardisierte Lösungen, die die Integration von Kernbankensystemen mit Drittsystemen und damit Innovationsleadership für unsere Bankkunden ermöglichen. Oder branchenunabhängige Produkte für Authentisierung, Identifikation und Onboarding und die in MS Teams integrierte Arbeitsplatzbuchungslösung ti&m Places. Diesen Weg gehen wir konsequent weiter, um nachhaltige und unabhängige Lösungen für unsere Kunden zu schaffen.
Geografisch setzen wir weiterhin auf unsere bewährte «Follow the client»-Strategie: Wir wachsen an bestehenden Standorten und eröffnen neue Niederlassungen dort, wo unsere Kunden uns brauchen.
Wie haben sich die Margen in den unterschiedlichen Geschäftsbereichen entwickelt, welche (neuen) Bereiche sollen in Zukunft die attraktivsten Margen beisteuern?
Im klassischen IT-Consulting spüren wir den Margendruck deutlich stärker als noch vor einigen Jahren. Dagegen entwickeln sich unsere Produkte und das Innovationsgeschäft stabil und erfreulich. Gerade in diesen Bereichen sehen wir auch künftig das grösste Potenzial. Wir sind überzeugt, dass Themen wie künstliche Intelligenz und digitale Souveränität auf Basis von Open Source in den nächsten Jahren die attraktivsten Margen generieren werden – weil sie für unsere Kunden strategisch entscheidend sind und echten, nachhaltigen Mehrwert schaffen.
Ihre Rolle als CEO hat sich seit der Gründung 2005 fundamental gewandelt. Welche konkreten Management-Kennzahlen verwenden Sie heute zur Unternehmenssteuerung, die es 2005 noch nicht gab? Wie messen Sie Innovation quantitativ (F&E-Quote, Patent-Anmeldungen, Time-to-Market neuer Produkte …)?
Kennzahlen sind wichtig, aber sie sind nicht alles. Ich denke als Unternehmer langfristig und lasse mich nicht allein von Zahlen treiben – manchmal entscheide ich auch bewusst gegen den Mainstream. Für uns sind die F&E-Quote und die Time-to-Market neuer Produktideen zentrale Indikatoren, um Innovationskraft messbar zu machen. Gleichzeitig verlasse ich mich stark auf die Qualität unserer Projekte, die Resonanz bei unseren Kunden und das Engagement unserer Mitarbeitenden – Faktoren, die sich nicht immer in einer Kennzahl abbilden lassen, für den langfristigen Erfolg aber entscheidend sind.
«Kennzahlen sind wichtig, aber sie sind nicht alles. Ich denke als Unternehmer langfristig und lasse mich nicht allein von Zahlen treiben – manchmal entscheide ich auch bewusst gegen den Mainstream.»
ti&m verwendet den Slogan «AI-powered Innovation». Können Sie konkrete KI-Projekte bei Kunden nennen, bei denen bereits messbare Effizienzgewinne oder Kosteneinsparungen erzielt wurden?
Bei grossen Versicherern konnten wir beispielsweise mit generativen Modellen unstrukturierte Rechnungen und Anfragen automatisiert klassifizieren und verarbeiten. Im Finanzsektor haben wir Lösungen entwickelt, die Geschäftsberichte automatisch aus Finanzdaten generieren, Dokumentationssysteme mit RAG-Ansätzen intelligent durchsuchbar machen, Transkripte aus Meetings KI-gestützt aufbereiten und Elemente der Compliance wie Personenüberprüfungen automatisiert. Auch im öffentlichen Sektor kommen unsere KI-Lösungen zum Einsatz: etwa bei der Automatisierung von HR-Anfragen oder der Unterstützung von Behördenmitarbeitenden mit Chatbots. Hinzu kommen Anwendungen im Bereich Forecasting und Anomalie-Erkennung, die unseren Kunden helfen, grosse Datenmengen effizient zu analysieren und fundierte Entscheidungen zu treffen. Allen Projekten ist gemeinsam: Sie steigern Produktivität, senken Kosten und erhöhen die Qualität – und das in sensiblen, hochregulierten Branchen.
In welchen Branchen sehen Sie das grösste Potenzial für gewinnbringende KI-Anwendungen?
Wie die Beispiele zeigen, ist das Potenzial für KI riesig – überall dort, wo grosse Datenmengen verarbeitet werden müssen. Besonders klar sehen wir es in der Finanzbranche, wo Prozesse hochgradig standardisiert sind und Effizienzgewinne direkt spürbar werden. Aber auch die öffentliche Verwaltung bietet enormes Potenzial: Viele Abläufe lassen sich mit KI effizienter, transparenter und nutzerfreundlicher gestalten. Grundsätzlich gilt: Früher oder später werden alle Branchen KI nicht nur punktuell einsetzen, sondern ihre Wertschöpfungsketten damit systematisch optimieren müssen.
ti&m Banking wird von über 30 Schweizer Banken genutzt. Welche neuen Technologien und Innovationen werden den Finanzsektor in den nächsten drei Jahren am fundamentalsten beeinflussen – und wie investiert ti&m konkret in diese Bereiche?
Wir sehen im Finanzsektor gleich mehrere technologische Hebel, die in den nächsten Jahren entscheidend sein werden. Im B2C-Bereich geht es stark um Kundenerlebnis und Kundenbindung: Attraktive Mobile-Lösungen, KI-gestütztes Personal Finance Management, intelligente Suchfunktionen, Next-Best-Action-Ansätze und Multibanking werden Standard werden. Hinzu kommen die Integration von E-ID und digitalen Credentials sowie nutzerzentrierte Lösungen im Bereich digitaler Assets. In all diesen Bereichen investieren wir gezielt in unsere Banking-Produkte.
«Früher oder später werden alle Branchen KI nicht nur punktuell einsetzen, sondern ihre Wertschöpfungsketten damit systematisch optimieren müssen.»
Im B2B-Umfeld sehen wir viel Potenzial bei der Digitalisierung von Kreditprozessen, in der Unterstützung externer Vermögensverwalter und bei Robo-Lösungen. Und wir beobachten sehr genau, welche Rolle Stablecoins künftig spielen werden – sollten sie für den Markt relevant werden, werden wir unsere Plattform entsprechend erweitern.
Mit ti&m Banking schaffen wir die Grundlage, diese Innovationen schnell und sicher in den Markt zu bringen – offen, modular und auf die Bedürfnisse unserer Kunden zugeschnitten.
Das Thema digitale Souveränität wird in der Schweiz, nicht zuletzt im Hinblick auf die Abstimmung über die E-ID, intensiv diskutiert. Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage der Schweiz im internationalen Vergleich – etwa zu Deutschland, Frankreich oder den nordischen Ländern? Welche konkreten politischen oder rechtlichen Massnahmen müssten mit welcher Priorität umgesetzt werden, um die Position der Schweiz zu stärken?
Ich habe mich sehr gefreut, dass die E-ID im September so deutlich angenommen wurde. Damit erhält die Schweiz endlich die dringend notwendige Basisinfrastruktur für eine vertrauenswürdige, staatliche digitale Identität. Das ist die Grundlage, um Interaktionen mit Behörden, Unternehmen und E-Commerce-Anbietern nachhaltig zu optimieren. Entscheidend wird nun sein, schnell relevante Anwendungsfälle zu schaffen, die den Einwohnern echten Mehrwert bieten. Gelingt das, sehe ich die Schweiz im internationalen Vergleich – auch mit Deutschland, Frankreich oder den nordischen Ländern – sehr gut aufgestellt.
Für die Zukunft ist zentral, dass Staat und Privatwirtschaft digitale Services konsequent im Sinne der Endnutzer entwickeln: transparent, effizient, verfügbar und sicher. Das wird die Digitalisierung in der Schweiz massiv beschleunigen und unsere Wettbewerbsfähigkeit stärken.$
«Für die Zukunft ist zentral, dass Staat und Privatwirtschaft digitale Services konsequent im Sinne der Endnutzer entwickeln: transparent, effizient, verfügbar und sicher.»
Auf politischer Ebene braucht es zwei klare Prioritäten: Erstens muss die Datenhoheit beim Bürger bleiben – wie beim SSI-Ansatz der E-ID. Zweitens sollten wir beim Thema Regulierung, insbesondere rund um KI, unseren eigenen Weg gehen. Ein zu strenges Regelwerk nach EU-Vorbild wie der AI Act wäre für die Innovationskraft der Schweiz Gift.
Microsoft investiert 400 Millionen Dollar in die Schweiz, gleichzeitig wächst die Kritik an der Big-Tech-Abhängigkeit. Wie beurteilen Sie diese Abhängigkeit, welche Alternativen sehen Sie und welche Investitionen wären nötig, um diese Abhängigkeit in den nächsten fünf Jahren signifikant zu reduzieren?
Open Source und digitale Souveränität sind fester Bestandteil unserer Strategie. Am Ende müssen aber die Kunden entscheiden, welchen Stellenwert sie diesem Thema beimessen. Ich bin überzeugt, dass sicherheitskritische Anwendungen und Daten auf eigenen Infrastrukturen betrieben und – wo möglich – auf Open-Source-Technologien aufgebaut werden sollten. Gleichzeitig gilt: Die Zusammenarbeit mit Hyperscalern ist nicht grundsätzlich problematisch, sie bietet viele Vorteile. Entscheidend ist, dass wir Alternativen schaffen und in lokale, unabhängige Infrastrukturen investieren, um Wahlfreiheit zu gewährleisten und die Abhängigkeit von einzelnen Anbietern nachhaltig zu reduzieren.
Mit dem EMBAG-Gesetz (Bundesgesetz über den Einsatz elektronischer Mittel zur Erfüllung von Behördenaufgaben) ist die Schweiz Vorreiterin bei «Open Source by Default». Welche Rolle spielt Open Source bei ti&m konkret, bei der Verwendung als auch bei der Entwicklung eigener Lösungen? Können Sie den Anteil Open Source-basierter Projekte beziffern und wie entwickelt sich dieser?
Open Source ist eine wichtige Komponente der digitalen Souveränität und zählt zu den strategischen Schwerpunkten von ti&m. Wie erwähnt setzen wir bei der Entwicklung neuer Produkte wie der Datenplattform «Open Datastack» konsequent auf Open Source. Der Anteil unserer Open-Source-basierten Projekte wächst kontinuierlich, sowohl bei Eigenentwicklungen als auch in Kundenprojekten, da Open Source die Flexibilität, Sicherheit und Innovationsgeschwindigkeit deutlich erhöht. Neben eigener Expertise setzen wir auch auf strategische Partnerschaften. Dazu gehören beispielsweise Red Hat als stabile Plattformbasis oder Evolveum mit midPoint im Bereich Identity & Access Management. Parallel evaluieren wir laufend weitere Partnerschaften, um unseren Kunden geprüfte, praxistaugliche Alternativen zu proprietären Lösungen anbieten zu können.
«Aktuell prüfen wir den Einsatz von Apertus, einem in der Schweiz entwickelten, vollständig Open-Source-basierten Large Language Model.»
Aktuell prüfen wir den Einsatz von Apertus, einem in der Schweiz entwickelten, vollständig Open-Source-basierten Large Language Model. Apertus ist in Varianten mit 8 und 70 Milliarden Parametern verfügbar, unterstützt über 1’000 Sprachen – darunter Schweizerdeutsch und Rätoromanisch – und ist vollständig transparent, von Architektur über Trainingsdaten bis zu Gewichten. Viele Ziele von Apertus decken sich mit unseren: Transparenz, Ethik, Sicherheit und vor allem die Stärkung der digitalen Souveränität, insbesondere im Bereich KI.
Wo sehen Sie ti&m 2030 in Bezug auf Mitarbeiterzahl, Umsatz und geografische Präsenz? Welche neuen Märkte werden Sie erschliessen und mit welchen Investitionssummen planen Sie diese Expansion?
Zahlen sind für mich als Unternehmer nicht das Entscheidende – wichtig ist, dass wir gesund und nachhaltig wachsen. Wir planen, unsere Präsenz in Europa gezielt entlang der Bedürfnisse unserer Kunden auszubauen und weitere Niederlassungen zu eröffnen. Gleichzeitig erwarten wir, dass ab 2027 ein nächster grosser Wachstumsimpuls realistisch ist, getragen von neuen Technologien, Innovationen und der konsequenten Umsetzung unserer Strategie. Dabei investieren wir weiterhin gezielt in KI, digitale Souveränität, Open-Source-Lösungen und unsere Produktpalette, um auch langfristig wettbewerbsfähig und attraktiv für Mitarbeitende und Kunden zu bleiben.
Zum Schluss des Interviews haben Sie zwei Wünsche frei, wie sehen die aus?
Eigentlich bin ich wunschlos glücklich, aber wenn ich schon zwei Wünsche äussern darf:
Erstens hoffe ich, dass die Schweiz ihren unabhängigen Weg auch in Zukunft erfolgreich weitergeht. Ich wünsche mir, dass wir als IT-Unternehmen weiterhin massgeblich zur digitalen Souveränität, Sicherheit und Innovationsfähigkeit des Landes beitragen dürfen – mit Open-Source-Lösungen, die unsere Unabhängigkeit und die unserer Kunden stärken.
Zweitens wünsche ich mir, dass ti&m auch 2030 und darüber hinaus unabhängig, mutig, innovativ und erfolgreich bleibt. Dass wir neue Technologien und Geschäftsmodelle frühzeitig nutzen, unsere Produkte weiterentwickeln und als Unternehmen eine führende Rolle in der Schweizer IT-Landschaft einnehmen.