Vanja Crnojević, CEO Borderfree Association, im Interview

Vanja Crnojević, CEO Borderfree Association

Von Robert Wildi

Frau Crnojević, Sie haben die Touristik Fachhochschule in Chur absolviert und hatten einen sicheren Job im Reisebüro. Weshalb haben Sie vor fünf Jahren entschieden, diesen aufzugeben und eine Hilfsorganisation für Flüchtlinge zu gründen?

Ich arbeitete ein paar Jahre in der Reisebranche, danach als Reiseleiterin, habe meinen Sohn bekommen und mich als Mutter verwirklicht. Danach habe ich mich in anderen Branchen versucht, aber nichts hat mich richtig erfüllt. Ich fühlte oft eine Leere in mir.

«Wenn ich sehe, wie in Not geratene Menschen durch diese Hilfe Glück erfahren, erfüllt mich das sehr. Von daher habe ich nichts aufgegeben für diesen Job, sondern einen echten Sinn im Leben gefunden.» Vanja Crnojević, CEO Borderfree Association

Als ich 2014 bei den Überschwemmungen auf dem Balkan 15 Tonnen Hilfsgüter sammelte, drehte das Schweizer Fernsehen eine Reportage über mich. Damals spürte ich, dass auch andere Talente in mir stecken. Dieses Projekt erfüllte mich. Die Organisation solcher Einsätze mit dem Ziel, etwas Gutes zu tun, macht mir Freude. Wenn ich sehe, wie in Not geratene Menschen durch diese Hilfe Glück erfahren, erfüllt mich das sehr. Von daher habe ich nichts aufgegeben für diesen Job, sondern einen echten Sinn im Leben gefunden.

Inwiefern hat Ihre eigene Vergangenheit – Sie flüchteten als 11-Jährige mit Ihrer Familie aus Bosnien in die Schweiz – dieses aktuelle Engagement mitgeprägt?

Sehr stark. In der ersten Linie ist es mir wichtig, Flüchtlinge nicht als eine Masse zu sehen, sondern als einzelne Menschen mit Namen und einer persönlichen Geschichte. Ich habe am eigenen Leib erfahren, was es heisst, wenn man sich für Fehler der eigenen Landsleute rechtfertigen muss. Das ist nicht fair.

Die von Ihnen gegründete Borderfree Association gibt es nun seit fünf Jahren. Was konnten Sie bislang erreichen?

Borderfree ist ein Wunder und so schnell gewachsen, dass es mir selbst die Sprache verschlägt. Begonnen habe ich mit 2’000 Franken, die ich in der Schweiz bei Freunden gesammelt habe. Ich reiste allein nach Serbien und kaufte flüchtenden Menschen auf der Durchreise Sandwiches und Wasser. Damals waren die Grenzen noch offen. Später kaufte ich ein kleines Zelt und kochte Suppe und Tee.

«Für mich gehört jeder Mensch in Not zu unserer Zielgruppe. Ich wähle keine Gruppen, wir helfen auch Einheimischen vor Ort.»

Der erste Container mit integrierter Küche folgte bald, dann zwei Holzhäuser in Griechenland, die als Schule dienten, eine mobile medizinische Klinik, weitere zwei Schulen in Serbien, ein Coiffeur-Salon im Camp Preševo, ein Café mit einer Bibliothek, über 400 Bücher auf Arabisch und 500 Bücher auf Farsi, eine mobile Zahnklinik und zuletzt ein Haus für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, das «House of Rescue». Es kam eins ums andere.

Welchen Menschen wollen und konnten Sie bislang helfen?

Für mich gehört jeder Mensch in Not zu unserer Zielgruppe. Ich wähle keine Gruppen, wir helfen auch Einheimischen vor Ort. Oft sind zum Beispiel auch serbische Polizisten in unserer Zahnklinik gewesen. Borderfree heisst ohne Grenzen, und genauso verstehen wir unser Hilfsangebot.

Inwiefern hat die Corona-Pandemie die Situation der Flüchtlinge verschlimmert respektive die Arbeit der Borderfree Association erschwert?

Die Zeit des Corona-Lockdowns waren für mich die längsten Monate, fast seit ich denken kann. Ich litt sehr darunter, nicht reisen und Menschen helfen zu können. In Serbien wurden die Camps geschlossen, niemand kam rein oder raus. Eine absolute Sperre wurde auch für die Kids im House of Rescue verhängt. Das war psychisch sehr belastend, auch für die Mitarbeitenden. Vor allem musste ich an die Menschen im Libanon denken. Sie haben kein Anrecht auf eine medizinische Versorgung. Darum haben wir uns entschieden, eine mobile medizinische Klinik im Libanon zu bauen. Im Moment sammeln wir noch Geld dafür.

In der Schweiz und der EU propagieren die meisten Politiker, dass man den Flüchtlingen in den Krisengebieten selbst hilft, statt sie in hoher Zahl in Europa aufzunehmen. Funktioniert das?

Nein, das reicht nicht aus. Denn sehr häufig ist die Hilfe in den Krisengebieten nicht gewährleistet. Es fliesst zwar viel Geld dahin, sehr häufig versickert es aber und wird nicht dort eingesetzt, wo es wirklich gebraucht wird. Ich nenne das «Bermudadreick Syndrom».

«Die Menschen im Libanon haben kein Anrecht auf eine medizinische Versorgung. Darum haben wir uns entschieden, eine mobile medizinische Klinik im Libanon zu bauen. Im Moment sammeln wir noch Geld dafür.»


Haben Sie in Ihrer Organisation genügend finanzielle Mittel und auch Manpower zur Verfügung, um effizient zu helfen?

Wir sind in diesen fünf Jahren zwar gewachsen und ich habe gelernt, wie man Infrastrukturen vor Ort schafft. Aber wir erhalten keine grossen Beträge für unsere Arbeit. Meistens finanzieren wir uns mit privaten Spendern, die uns kennen und unsere Arbeit schätzen. Auch ein paar Stiftungen unterstützen unsere laufenden Projekte. Grundsätzlich ist das Geld aber immer knapp. Was die Manpower anbelangt, da gibt es genug Volontäre, die mit mir vor Ort sind. Auch in der Schweiz arbeiten viele Leute ehrenamtlich mit. Dazu gehört auch der gesamte Vorstand.

In welchem Land möchten Sie konkret noch mehr Hilfe leisten?

Definitiv im Libanon. Es gibt dort 2,5 Millionen Flüchtlinge und vier Millionen Einheimische. Das ist ein erdrückend hoher Flüchtlingsanteil. Allerdings gibt es keine staatlichen Camps. Die Menschen dort sind auf sich alleine gestellt und pachten Land, um ihre Zelte darauf aufzustellen.  

Was würden Sie sich von der Schweizer Politik und Bevölkerung wünschen, um den Flüchtlingen noch besser und wirksamer helfen zu können?

Die Schweiz verkauft Waffen in Konfliktgebiete, was man sofort stoppen sollte. Auch das wirtschaftliche Ausbeuten von vielen Ländern führt zu massiver Flucht. Ich wünsche mir, dass die Menschen in der Schweiz nicht nur den Flüchtling sehen, sondern die Ursache. Wir sind alle mitverantwortlich. Weil wir im Reichtum leben möchten, müssen andere für uns arbeiten.

Haben Sie noch einen festen Wohnsitz im Kanton Graubünden? 

Oh ja! Und ich bin sehr froh, in Chur meine private Oase der Ruhe zu haben. Ich wohne hier mit meinem 15-jährigen Sohn und geniesse es sehr, in der Schweiz zwischendrin total entspannen zu können.

«Die Schweiz verkauft Waffen in Konfliktgebiete, was man sofort stoppen sollte. Auch das wirtschaftliche Ausbeuten von vielen Ländern führt zu massiver Flucht.»


Haben Sie noch so etwas wie ein Privatleben und Freizeit?

Menschen, die arbeiten, um Geld zu verdienen, brauchen natürlich Privatleben und Freizeit. Bei mir fliessen Beruf und Privatleben ineinander. Ich kann im Camp auch entspannen, mit Menschen dort zusammen kochen und essen, Kaffee trinken und arabisch lernen. Manchmal verbringe ich mit meinem Sohn Ferien im House of Rescue. Wir unternehmen gemeinsam Ausflüge, gehen ins Schwimmbad oder spielen Gesellschaftsspiele.

Wie sieht Ihr nächstes Ziel, Ihr Traum, Ihre Vision aus?

Mein Wunsch wäre es, staatliche Unterstützung zu bekommen, um grössere Projekte im Libanon umsetzen zu können. Ich möchte dort mehrere mobile Kliniken und Schulen bauen und damit gegen Kinderarbeit ankämpfen. Wir wollen den Menschen Möglichkeiten erschaffen, damit sie sich selbst versorgen können. Aber mein grösster Traum wäre, wenn es uns als Borderfree nicht mehr brauchen würde. Denn erst dann wäre die Welt in Ordnung. 


Vanja Crnojević
ist 40-jährig und flüchtete als Kind mit ihrer Familie aus Bosnien in die Schweiz. Vor fünf Jahren gründete sie die Borderfree Association, eine Hilfsorganisation für notleidende Menschen weltweit und ist mit dieser seither schnell gewachsen. Vor diesem Engagement arbeitete Crnojević einige Jahre in der Tourismusbranche als Reiseberaterin und -leiterin. Sie hat einen 15-jährigen Sohn und lebt mit diesem in Chur.
www.border-free.ch

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