In meinen Seminaren wende ich manchmal folgende Metapher an, um die Teilnehmer persönliche Bilanz ziehen zu lassen: «Stellen Sie sich vor: Heute ist Ihr letzter Tag. Schreiben Sie bitte Ihren Nachruf.» Die Bandbreite der Reaktionen reicht von hellem Entsetzen bis zu beredter Sprachlosigkeit. Das Beunruhigende an den Elaboraten ist nicht der Inhalt an sich, sondern dessen Dürftigkeit. Wenn ich dann die Frage stelle: «Ist das alles? Haben Sie überhaupt gelebt?», werden einige kleinlaut, und andere kommen mit der (Manager)-Ausrede, sein eigenes Leben könne man nicht einfach so auf die Schnelle bilanzieren, da brauche es mehr Zeit. Vielleicht eine Arbeitsgruppe einberufen oder eine Kommission? Bitte, meine Damen und Herren: Übernehmen Sie die Verantwortung für Ihr Leben! Und machen Sie etwas aus Ihrem Talent! Wobei ich gerne nachfrage: Liegt Ihr Talent wirklich in dem, was Sie gerade tun? Oder sind Sie in Ihrem Job, weil Sie nirgendwo sonst mit so wenig Aufwand und eindimensionalem Wissen so viel verdienen könnten wie hier? In der Finanzbranche zum Beispiel?
Im Hamsterrad
Einer meiner Bekannten hat sich eine Auszeit genommen und sein Sabbatical unter das Motto gestellt: «Vom gehetzten Hund zum fliegenden Adler.» Er hat etwas sehr Kluges gemacht: Er hat Distanz geschaffen zu seiner Arbeit, in der er fremdbestimmt war. Er hat erkannt, dass Projekte und Termine ihn im Hamsterrad des täglichen Funktionierens gefangen hielten. Es blieb kaum Zeit zum Nachdenken und Abwägen, zum Hinterfragen und Durchatmen. Erst dank der Distanz zum Alltag sieht er wieder das ganze Bild, nicht nur einen Ausschnitt, weil er zu nahe davor stand. Mit der Gelassenheit eines Adlers, der seine Kreise zieht und dadurch den Überblick bewahrt, hat er erkannt, dass er zu oft ein Gehetzter und zu selten ein Selbst-Bestimmender war. Entsprechend fällt seine Bilanz aus.
Die einen kassieren – die anderen werden gefeuert
Es ist schon ein eindrückliches Husarenstück, wie es Gross- und Investmentbanken immer wieder schaffen, der Öffentlichkeit weiszumachen, dass eine dürftige Leistung vergoldet werden müsse. Machen wir doch mal die Probe aufs Exempel: Wie viele Fusionen sind erfolgreich? Egal, welche Studie wir bemühen: Es sind weniger als die Hälfte. Konkret bedeutet dies, dass in mehr als fünfzig Prozent der Fälle entweder kein Mehrwert geschaffen wurde oder Werte vernichtet worden sind. Um es etwas anschaulicher zu sagen: Es wäre dasselbe, wie wenn wir zwei Spitzenmannschaften fusionieren, um dann mindestens jedes zweite Spiel zu verlieren. Die Investmentbanker kassieren, die Trainier werden gefeuert.
Die neuen Millionäre beim Tanz um das Goldene Kalb
Bilanzieren wir weiter: Wer sind die neuen Millionäre und Milliardäre? Es sind Banker und Hedge-Funds-Manager, die auf geschickte Art und Weise Vermögen umverteilt haben, und zwar vom Sparer und Unternehmer und dem Mittelstand auf ihre Bücher. Wenn vielen Menschen bei der Bonusdiskussion, die erneut genau so geführt wird, als wäre nichts geschehen, langsam aber sicher die Galle hochkommt, dann vor allem deshalb, weil auch der Blinde nun sieht, dass die exorbitanten Boni durch keinerlei Leistung zu rechtfertigen sind. Da stellt sich die Frage: Wie lange werden die Eiertänze der gierigen Banker um das Goldene Kalb ? ihren Bonus ? noch hingenommen? Ein sehr überlegter Leiter eines grossen Family Office hat im vertraulichen Kreis die Besorgnis geäussert, er sei sich nicht sicher, ob die weitere Entwicklung friedlich vor sich gehen werde. Diese Banker hätten nicht begriffen, auf welch dünnem Eis sie mit ihrem unverschämten Auftreten tanzten.
Bonus, ja gerne – Malus, nein danke!
Wie wichtig ist die Finanzbranche für die Volkswirtschaft? Die Einschätzungen reichen von wichtig bis sehr wichtig. Doch wie gross ist ihre Bedeutung bei einer Vollkostenrechnung? Wenn zum Beispiel, wie dies englische Politiker für den Finanzplatz London vorgerechnet haben, die Staatsgelder für die Existenzsicherung der Banken mit deren Steuerertrag abgeglichen werden? Dann relativiert sich der Beitrag der Finanzbranche an das Bruttoinlandprodukt deutlich. Die angelsächsischen Banken müssen über die nächsten vierzig bis fünfzig Jahre solide Gewinne abliefern, bis die Staatshilfen abgegolten sind. Es kommt bei der Betrachtung der tatsächlichen Leistung immer auch auf die zeitliche Dimension und das Verhältnis von Gewinn und Verlust an. Bei einer fairen Leistungsbeurteilung sind Bonus und Malus in Rechnung zu stellen. Bei Lichte betrachtet sind also viele glorifizierte Leistungen nichts Anderes als ein stetes Auf und Ab, ohne Konstanz in der Ausrichtung und ohne gesunden Menschenverstand in der Umsetzung.
Ernüchternde Bilanz
Bleiben wir bei der Bilanzierung, für einmal in einer grösseren Dimension. Wenn wir als Boom-Generation, geboren zwischen 1946 und 1976, Bilanz ziehen, dann fällt diese ernüchternd aus ? egal in welchem Bereich: Sei dies in der Ökologie, wenn ganze fruchtbare Landstriche erodieren; bei der Ernährung, wenn Millionen an Hunger und Durst sterben; bei der Bildung, zu der immer noch Hunderte von Millionen Menschen keinen Zugang haben; in der Wirtschaft, bei der das Gefälle zwischen arm und reich immer grösser wird. Das Erschreckende daran ist, dass wir so viel wissen und so wenig tun. Natürlich können wir als Boom-Generation für uns in Anspruch nehmen, dass wir Fortschritt und Wohlstand geschaffen haben. Gleichzeitig müssen wir eingestehen, dass wir die Welt immer wieder in Krisen gestürzt haben. Die aktuelle Krise ist noch nicht ausgestanden.
Hervorragende schlechte Vorbilder
Insgesamt sind wir schlechte Vorbilder für die Net-Generation, Menschen, die zwischen 1977 und 1999 geboren worden sind. Weltweit sind dies mehr als zwei Milliarden Menschen, die eine völlig andere Wertehaltung haben als wir. Die Net-Generation will keine Hierarchien, sie ist offen, flexibel und vernetzt. Sie drängt mehr und mehr hinein in Wirtschaft und Gesellschaft. Sie wird sich nicht unterordnen, sondern ihren eigenen Weg gehen. Sie wird sich teilweise aufsässig verhalten, weil sie die Boom-Generation nicht als Vorbild betrachtet, sondern eher als schlechtes Beispiel. Sie wird ihre Leistung am Ganzen einfordern, nicht in Form der heutigen lächerlichen Boni, sondern als Teilhaber an dem, was sie geschaffen hat. Sie wird laufend neue temporäre Unternehmen schaffen, statt sich in der Anonymität von Grossunternehmen zu verlieren.
Fehlende Fantasie
Die Net-Generation hat Zeit, denn die Zeit läuft für sie. Im nächsten Jahrzehnt wird sie sukzessive an Bedeutung und Einfluss gewinnen. Natürlich werden das viele Angehörige der Boom-Generation nicht wahrhaben wollen, vor allem diejenigen nicht, die mittelfristig Macht und Einfluss verlieren werden. Es sind dieselben, die sich noch vor wenigen Jahren nicht vorstellen konnten, dass mit einem kleinen Ding telefoniert, gefilmt, fotografiert und ferngesehen werden kann, ohne Kabel und ohne Festnetz. Und es waren dieselben, die es noch im Frühling 2008 nicht für möglich hielten, dass ein Farbiger Präsident der USA werden könnte. Es wird entscheidend sein, welchen Modus Vivendi die beiden Generationen finden werden, wenn die unterschiedlichen Lebenskonzepte aufeinanderprallen. Mit der bisherigen Einstellung und Wertehaltung jedenfalls werden wir uns nicht mehr durchmogeln können.
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Martin Zenhäusern
Ratgeber für Führungskräfte. Im Oktober 2009 erscheint seine neue Publikation «Warum tote Pferde reiten? Wie uns die Net-Generation zwingt umzusatteln». Autor von «Chef aus Passion» und «Der erfolgreiche Unternehmer». Gründer und Inhaber der Zenhäusern & Partner AG, Zürich. www.zen-com.com.