Martin Zenhäusern: Wandel II – Mitten drin

Was gibt uns die Zuversicht, dass der anstehende und bereits laufende Wandel für die Menschheit, und damit auch für Wirtschaft und Gesellschaft, Gutes bewirken soll? Verändert sich denn überhaupt etwas? Und wenn ja ? geht es denn auch schnell genug? Sehen wir uns einmal in unserem persönlichen und beruflichen Umfeld um. Es bewegt sich tatsächlich sehr viel. Nur sind es eben viele Einzelfälle, die in den Medien keine Beachtung finden.


Wenn wir uns mit unserem Umfeld unterhalten, dann stellen wir fest, dass heute Themen besprochen werden, die vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wären, seien dies Gespräche über die Sinnfrage oder die richtigen Werte, seien dies Diskussionen über die eigene Rolle im Unternehmen oder das Hamsterrad, das man verlassen möchte.

Kooperation statt Konfrontation
Ein weiterer Grund für unsere Zuversicht: Der Mensch ist ein von Grund auf kooperatives Wesen. Aggressives und negatives Verhalten liegt nicht in der Natur des Menschen, sondern ist die Folge fehlender oder destruktiver Beziehungen. Obwohl viele Wissenschaftler immer noch die darwinistische Lehre von der natürlichen Auslese und dem Überleben des Stärkeren vertreten, ist sie wissenschaftlich und auch ethisch nicht mehr haltbar. Wie Joachim Bauer, Mediziner und selbst jahrelang in der Gen-Forschung tätig, anhand der neuesten Erkenntnisse der Neurobiologie und Verhaltensforschung in seiner Publikation Prinzip Menschlichkeit nachgewiesen hat, ist der Mensch ein durch und durch soziales Wesen, das gute Beziehungen zu anderen aufbauen und erhalten will.


Deshalb ist der egozentrische und rücksichtslose Manager nicht die Regel, sondern die unter einer schweren Verhaltensstörung leidende Ausnahme, wie ich im ersten Teil bereits betont habe. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass viele verhaltensgestörte Manager unter ungewollter Einsamkeit leiden, was nachweislich krank und anfällig für Suchtverhalten macht.


Die Erfindung des «egoistischen Gens»
Haben wir schon einmal Bilanz gezogen, wie viel menschliche und wirtschaftliche Ressourcen aufgrund skrupellosen und egoistischen Verhaltens zerstört werden? Offenbar ist in diesem Zusammenhang nun die Geduld und Leidensfähigkeit der grossen Mehrheit erschöpft, was sich daran zeigt, dass Aktionäre nicht mehr bereit sind, nach oben unbegrenzte Bonussysteme diskussionslos durchzuwinken und Fehlverhalten einfach die Décharge zu erteilen. Es ist eine Frage der Zeit, bis sich kooperatives Verhalten anstelle des kurzsichtigen Egoismus auch in bisher resistenten Branchen durchsetzen wird, weil Kooperation eine urmenschliche Eigenschaft und das von der Soziobiologie propagierte «egoistische Gen» eine wissenschaftlich unhaltbare Erfindung ist.


Aggression und Egoismus werden erlernt ? sie sind nicht angeboren. Wir können davon ausgehen ? und dies wird in der Realität bereits stark abgebildet ? dass in Wirtschaft und Gesellschaft der Fokus verstärkt auf gute Beziehungen gelegt wird. Und dass vermehrt in Netzwerken kooperiert wird. Warum? Weil die Net- Generation mit diesen Prinzipien aufgewachsen ist. Und weil bei der Boom- Generation die Einsicht wächst, dass verlässliche Zusammenarbeit auf Dauer wesentlich erfolgreicher ist als egoistisches Handeln.


Das TOGG-Prinzip 
Um die Net-Generation, welche den fundamentalen Wandel in Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Gesellschaft antreibt, besser verstehen zu können, ist es wichtig, ihre Prinzipien und Einstellungen zu kennen. Ich fasse die wichtigsten im TOGG-Prinzip zusammen. Das TOGG-Prinzip der Net-Generation steht für Teilen, Offenheit, Global handeln sowie Gleichrangigkeit. Dieses Prinzip tritt in Konkurrenz zu den herkömmlichen Management-Prinzipien der Boom-Generation. Es ist viel Konfliktstoff gegeben, wenn beide Generationen an ihren Prinzipien festhalten. Und es ist viel Potenzial für einen nachhaltigen Fortschritt vorhanden, wenn beide Generationen bereit sind, aufeinander zuzugehen und voneinander zu lernen.


Was heisst teilen?
Herkömmliche Firmen schotten ihre F&E ab, ohne Gewähr, dass sie die besten Forscher und Entwickler beschäftigen, da ein wirklich nachweisbarer Benchmark fehlt. Sie können nur hoffen, dass ihre Teams schneller sind als diejenigen der Mitbewerber. Warum jedoch Talente, Mittel und Zeit verschwenden, weil jeder es selbst machen will? Warum ausgewählte Projekte nicht auf das Netz stellen und die Besten daran arbeiten lassen? Es gibt bereits gute Beispiele: Procter & Gamble, ein Unternehmen der Konsumgüterindustrie, hat sich zum Ziel gesetzt, bis Mitte 2010 die Hälfte seiner neuen Produkt- und Serviceideen von ausserhalb des Unternehmens zu holen. Hier wird also ein neues Mantra eingeführt: Statt «Not invented here» heisst es nun: «Proudly found elsewhere».


Was heisst Offenheit?
Offen sein heisst, den Weg als Ziel zu betrachten. Dabei gehört Trial and Error zum Lernprozess. Wer offen ist, hat keine Angst, Fehler zu begehen, weil diese Teil der Entwicklung sind. Wer offen ist, kann zudem neue Erkenntnisse gewinnen, die sich mitunter daraus ergeben, dass er die Begegnung zweier befreundeter Gedanken zulässt, die für sich alleine stehend zu schwach sind, um etwas zu bewirken, in der Kombination jedoch häufig eine gute Lösung ergeben. Wo Lern-Verweigerer «ja, aber…» sagen, stellt der offene und neugierige Mensch die Frage: «Warum nicht?»


Was heisst global handeln?
Wer mit modernen Technologien wie dem Internet aufgewachsen ist oder sich häufig in Netzwerken bewegt, reisst automatisch Grenzen ein zwischen Menschen und Märkten, Kulturen und Sprachen. Die virtuelle Welt, welche von Internet, Facebook, Xing usw. zur Verfügung gestellt wird, ist beinahe grenzenlos. Der eigene Internet-Anschluss ist das Tor zur Welt. Die Net-Generation lernt im Laufe ihrer Entwicklung zwangsläufig auch die reale Welt kennen, so dass sie sich in beiden Welten bewegen kann. Die Boom-Generation wiederum tut gut daran, wenn sie sich mit der virtuellen Welt der Net-Generation auseinandersetzt, sie verstehen lernt und gleichzeitig die modernen Technologien in ihre reale Welt integriert. Wenn beide Generationen mehr voneinander wissen und Vorurteile durch echtes Interesse und intensiven Dialog überwinden, dann kann der Wandel gemeinsam gestaltet und gesteuert werden.


Was heisst Gleichrangigkeit?
In geraffter Form heisst dies: Weg von der Funktion, hin zur Leistung. Weg von der starren Hierarchie, hin zur Meritokratie. Anerkennung und Wertschätzung sollen auf Leistung basieren, nicht auf Titeln. Die Net-Generation ist bereit, Verantwortung zu übernehmen, jedoch nur für den Bereich, den sie kennt und für den sie zuständig ist. Natürlich braucht es auch bei der angestrebten Gleichrangigkeit klare Spielregeln, damit Leistungen erbracht und Ziele erreicht werden können. Und es braucht bei jedem Team eine Spitze, die letztlich die getroffenen Entscheidungen durchsetzt oder ausführt. Nur sollen es diejenigen sein, die von der Sache am meisten verstehen, und nicht diejenigen, die aufgrund ihrer Hierarchiestufe entscheiden, obwohl sie häufig (zu) weit weg vom Geschehen sind. Wenn das Prinzip der Gleichrangigkeit vorherrscht, dann können Unternehmen ihre Talente besser einsetzen und deren Potenziale gezielt nutzen, anstatt diese im Hierarchiegeplänkel der Innenpolitik zu vergeuden oder zu verheizen.


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Vom Bonus-Empfänger zum arbeitenden Aktionär
Und wie sollen wir in Zukunft bezahlt werden? Es wird sich ein Wandel vollziehen: Leistungsträger werden zu arbeitenden Aktionären. Die Net-Generation betrachtet sich nicht einfach als Lohnempfänger, sondern sie will mit ihrem geistigen Beitrag am Gesamtergebnis partizipieren. Wie dies in der Praxis geregelt werden kann, wird sich entwickeln müssen. Es geht jedoch klar in die Richtung, dass im Zuge dieser Entwicklung Selbstständige, Einzelunternehmen und kleine mittelständische Unternehmen einen immer grösseren Teil der Produktion übernehmen werden. Es werden ? viel mehr als heute ? temporär zusammengesetzte Netzwerke wie Unternehmen fungieren, die sich einer oder mehrerer Aufgaben widmen, flexibel auf lokaler, nationaler oder globaler Ebene kooperieren und sich dabei laufend neu ordnen, jedoch in überschaubarer Grösse und mit klar zugeordneter Verantwortung.


Es gibt gute Beispiele von Grossunternehmen, die dieser Entwicklung Rechnung tragen, indem sie dazu übergegangen sind, ihr Unternehmen in autonome und selbstverantwortlich organisierte kleinere Einheiten aufzuteilen, so dass der Einzelne sich mit einem überschaubaren Unternehmen identifizieren und sich dadurch besser entfalten kann.


Ewiges Wachstum ist kein Naturgesetz
Ewiges Wachstum ist kein Damit wird nachhaltiges Gedeihen wieder möglich, wobei Gedeihen nicht gleichzusetzen ist mit Wachstum. Auch Unternehmen brauchen Phasen der Regeneration, um ihr Wachstum verdauen und neue Energien sammeln zu können. Ewiges Wachstum ist erstens kein Naturgesetz und zweitens tödlich, weil es erstens faktisch kein ewiges Wachstum geben kann und weil sich zweitens jedes Unternehmen früher oder später übernimmt und schwächt, wenn es gegen diese Erkenntnis verstösst.


In unserem westlichen Wirtschaftssystem sind in den vergangenen Jahren zwar gutgemeinte, jedoch in der Ausgestaltung fatale Regelungen eingeführt worden, die einer sinnvollen und nachhaltigen Entwicklung eines Unternehmens diametral entgegen stehen. Zwei besonders fatale seien dabei erwähnt: Einerseits die Quartalsberichterstattung, die derart sinnlos sind, dass man sich schon fragen darf, warum diese Vorschrift, die jede vernünftige langfristige Strategie
verhindert, nicht schon längst wieder abgeschafft worden ist. Und zweitens der gutgemeinte Sarbanes-Oxley Act (SOX), der ausser einem hohen administrativen Aufwand wenig gebracht hat und auch die Finanzmarktkrise nicht vermeiden konnte, obwohl der SOX mit der Absicht eingeführt worden ist, das Vertrauen der Anleger in die Verlässlichkeit von veröffentlichten Finanzzahlen kotierter Unternehmen wiederherzustellen.


Wie lange sich diese Regelungen noch halten werden? Bei Lichte betrachtet könnte getrost auf sie verzichtet werden. SOX beispielsweise wäre nie eingeführt worden, wenn die Wirtschaft ihre Hausaufgaben gemacht hätte. Dasselbe scheint sich jetzt im Nachgang der Finanzmarktkrise zu wiederholen: Die internationale Finanzbranche hat lamentiert, statt zu handeln, weshalb sich die Politik bemüssigt sieht, neue Regulierungen einzuführen, über die wir uns wohl noch ziemlich ärgern dürften, wenn sich die Gemüter wieder etwas abgekühlt haben. Eine Denkzettelpolitik, die auf der emotionalen Schiene fährt, hat noch nie zu nachhaltigen Resultaten geführt. Meiner Meinung nach werden sie den anstehenden Wandel jedoch weder spürbar beeinträchtigen noch befördern.


Wann kommt der Tipping Point?
Wie an einigen Beispielen und Entwicklungen dargestellt, befinden wir uns bereits mitten im Wandel, obwohl er noch nicht an einem grossen Ereignis festgemacht werden kann. Zudem verläuft er auf verschiedenen Ebenen in unterschiedlicher Geschwindigkeit ab, was eine allgemeine Einordnung noch schwierig macht. Was dürfte in den nächsten Jahren geschehen, und welche Bereiche werden Trendsetter sein? Wann kommt der sogenannte Tipping Point, der Moment, bei dem eine Entwicklung plötzlich und dramatisch dreht? Darauf gehe ich im dritten Teil ein.


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martin@zen-com.com





Martin Zenhäusern
Martin Zenhäusern, ist Unternehmer und Ratgeber für Führungskräfte. Autor von: «Warum tote Pferde reiten? Wie uns die Net-Generation zwingt umzusatteln». Darin beschreibt er den Wandel in Wirtschaft und Politik, der durch die Net-Generation rasch vorangetrieben wird. «Als Berater von Entscheidungsträgern aus Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur hat er ein feines Gespür für Veränderungen entwickelt, die zuerst nur hinter vorgehaltener Hand besprochen werden, bevor sie plötzlich und wie selbstverständlich zum breit diskutierten öffentlichen Thema werden» (Orell Füssli über den Autor). Zenhäusern ist zudem Autor von «Chef aus Passion» und «Der erfolgreiche Unternehmer». Gründer und Inhaber der Zenhäusern & Partner AG sowie der Zenhäusern Akademie AG, beide in Zürich. www.zen-com.com  , www.zenhaeusern.ch .

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