Noch nie habe ich einen Text so oft begonnen und wieder verworfen wie diesen. Es fehlen mir die Worte, um zu beschreiben, was die aktuelle Situation im Gazastreifen mit mir macht und gleichzeitig wird man als öffentliche Person derzeit von allen Seiten zu Statements, Bekenntnissen und Demonstrationen nicht aufgefordert, sondern geradezu gedrängt.
So viel vorab: Ich bin keine Kennerin des Israel-Palästina-Konflikts und seiner ganzen Historie. Stück für Stück, Text für Text lese ich mich ein in der Hoffnung, mit mehr Verständnis mehr Substanzielles sagen zu können, doch das Gegenteil ist der Fall. Dennoch liegt es mir am Herzen, diesen Text zu schreiben und möchte ihn keineswegs als Rechtfertigung oder Gefälligkeitstext verstanden wissen. Dies ist keine Reaktion auf jene Personen, die mich ob der eigenen Ohnmacht und Verzweiflung der Haltungslosigkeit und Untätigkeit bezichtigen – ich bin weder das eine noch das andere. Es ist ein Versuch, zu benennen, was klar zu benennen ist, unser politisches Handeln aufzuzeigen und zu erreichen, was in einem Post oder Reel nicht zu erreichen ist: Nämlich nicht sofort wieder von der einen oder anderen Seite instrumentalisiert und wahlweise als Völkermordbefürworterin oder aber Antisemitin bezeichnet zu werden. Die Zündschnüre waren selten kürzer und die Thematik selten so explosiv.
Es ist wohl die Kombination aus der desaströsen humanitären Lage im Gazastreifen, der eigenen Ohnmacht und der weitgehenden Untätigkeit des Bundesrats, der sich trotz klarer Forderungen und Engagement von SP und Grünen noch immer nicht der von über 20 Staaten unterzeichneten Geber-Erklärung zur humanitären Hilfe für Gaza angeschlossen hat, die zu teilweise unreflektierten Statements und Aktionen führt. In der erwähnten Erklärung fordern die Aussenministerinnen und Aussenminister der unterzeichnenden Staaten – darunter Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien, Australien und Kanada – Israel dazu auf, “die sofortige vollständige Wiederaufnahme der Hilfe für Gaza zu ermöglichen und es den Vereinten Nationen und humanitären Organisationen zu ermöglichen, unabhängig und unparteiisch zu arbeiten, um Leben zu retten, Leiden zu verringern und die Würde zu wahren”. Es erschliesst sich mir und vielen anderen nicht, warum der Bundesrat als Regierung des Depositarstaats der Genfer Konvention diese Erklärung nicht mitunterzeichnet hat und die Sanktionen der EU gegen gewalttätige Siedler*innen nicht übernimmt, die militärische Zusammenarbeit mit Israel nicht umgehend beendet und sich allfälligen Sanktionen zur Verhinderung der neuen Kampfhandlungen anschliesst. Ich kann nur festhalten, dass sowohl die SP als auch die Grünen intensiv Druck machen, mit öffentlichen Briefen, Kommissionsarbeit und Vorstössen eine klare Haltung des Bundesrats und eine starke Erhöhung der humanitären Hilfe für den Gazastreifen fordern und als Minimalerrungenschaft zumindest 20 Millionen für Hilfe in den palästinensischen Gebieten erringen konnten. Und ja, es war in der Tat ein politisches Ringen darum, wenngleich dies mitnichten ausreicht.
Was aktuell im Gazastreifen geschieht, sind Kriegsverbrechen, Verletzungen des Völkerrechts, humanitäre Katastrophen, keine Frage. Das muss so benannt werden. Gleichzeitig gilt es auch die Kriegsverbrechen und Völkerrechtsverletzungen der Hamas zu verurteilen, die noch immer Geiseln festhalten und für Bilder des Massakers gesorgt haben, die meine Vorstellungen des Grauens gesprengt haben. Auch darf nicht unterschlagen werden, dass hinter der Unterstützung für Palästina teilweise wieder vermehrt um sich greifender Antisemitismus steckt und sich auch in der Schweiz antisemitische Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung häufen. In einem Gespräch mit einer jüdischen Bekannten meinte diese zu mir kürzlich, dass sie sich seit den Eskalationen durch Israel und entsprechenden Demonstrationen zum ersten Mal wieder bedroht fühle, weil sie Jüdin sei. Das zu hören macht mir Angst.
Die krassen Völkerrechtsverletzungen durch die Regierung Netanjahu dürfen nicht dazu führen, das Existenzrecht Israels in Frage zu stellen. Wenn an (berechtigten) Demonstrationen gegen die Kriegsverbrechen mit Transparenten aufmarschiert wird, auf denen “From the river to the sea” zu lesen ist, ein Slogan, der vielfach stark antisemitisch verwendet wird und das Existenzrecht von Isreal weitestgehend negiert, dann ist das Anlass zur Besorgnis. Netanjahu ist nicht Israel, genauso wenig wie die Hamas Pars pro Toto für Palästina steht. Auch in Israel gibt es derzeit massiven Widerstand gegen Netanjahu und auch Jüdinnen und Juden in der Schweiz verurteilen die Kriegsverbrechen – genauso, wie wohl niemand an einer Pro-Palästina-Demonstration das Massaker der Hamas legitimieren würde.
Wenn ich die Debatte in Sozialen Medien und die unzähligen Nachrichten, die mich erreichen, verfolge, so fällt dies aber komplett unter den Tisch. Es gibt nur schwarz und weiss, nur ganz oder gar nicht und in der Hitze des Gefechts fallen Statements wie: Solange die Hamas die Geiseln nicht freigibt, sei das menschenverachtende Vorgehen Netanjahus legitim oder auf der anderen Seite “die Juden” würden mit den Kriegsverbrechen endlich ihr Ziel der Auslöschung des palästinensischen Volker erreichen. Beides grauenvolle Aussagen und in den Versuchen, mich an Debatten zu beteiligen und solche Wortmeldungen aufs Schärfste zu kritisieren, wurde ich abwechselnd von der einen Seite als Völkermordbefürworterin, von der anderen als Antisemitin bezeichnet. So viel zum Versuch der Differenziertheit und der Glättung der Wogen. Ich habe vollstes Verständnis für die Emotionalität, die Verzweiflung und die Ohnmacht, aber wenig für eine Abkehr von jeglicher Bereitschaft, Grauschattierungen wahrzunehmen.
Völkerrechtsverletzungen legitimieren als Reaktion keine Völkerrechtsverletzungen und auf beiden Seiten ist die Zivilbevölkerung mit den Kriegsverbrechern Hamas und Netanjahu nicht gleichzusetzen. Wie in offenen Briefen gefordert, unterstütze auch ich die Zwei-Staaten-Lösung und eine massive Erhöhung der humanitären Unterstützung des Gazastreifens durch die Schweiz, das fordere ich mit aller Vehemenz. Wir können nur dranbleiben, weiter politisch das Engagement und das Handeln des Bundesrats mit Nachdruck fordern, im Privaten Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen unterstützen, die im Gazastreifen Trinkwasser, Sanitäranlagen und Hygiene-Kits bereitstellen und medizinische Nothilfe leisten und in Debatten auf Social Media die Differenziertheit bewahren.
Die Situation ist aufgrund der historischen Schuld der westlichen Staaten durch den Holocaust komplexer als in anderen Konflikten. Es gilt, klare, eindeutige Worte zu finden, ohne in antisemitische Parolen abzudriften und plötzlich von jenen instrumentalisiert zu werden, mit denen man keinesfalls im gleichen Atemzug genannt werden möchte. Hier gilt, wie so oft, ein Lieblingszitat von mir aus dem Lied von Wolf Biermann: Du, lass dich nicht verhärten. In dieser harten Zeit.
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