Asbest-Urteil: Opferanwalt sieht Unternehmen vor Klagewelle

Justiz

(Foto: FikMik - Fotolia.com)

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Bern – Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zugunsten der Witwe eines Asbest-Opfers lässt weitere Familien hoffen. Denn es ist in den Augen von Schadenanwalt Martin Hablützel «richtungsweisend» für Schweizer Gerichte und den Gesetzgeber. Mit seinem Urteil könnte das Strassburger Gericht Asbest-Opfern nämlich zu dem verhelfen, was ihnen Schweizer Gerichte bislang verweigert haben: Geld als Entschädigung oder Genugtuung.

Das Urteil wird gemäss Hablützel dazu führen, dass alte Fälle neu aufgerollt werden. Die Gerichte müssten diese nun einer materiellen Prüfung unterziehen, sagte er am Mittwoch der Newsplattform Watson. «Das Eis ist nun gebrochen und Schadenersatzforderungen gegenüber Firmen wie Eternit, den SBB oder ABB sind zu erwarten. Hinterbliebene von Asbest-Opfern erhalten mit dem Strassburger Urteil die Möglichkeit, ihre Ansprüche geltend zu machen. Die Geschichte wird neu geschrieben.»

Viel Arbeit wartet auf die Gerichte
Schweizer Gerichte müssten neu beurteilen, «was die Verantwortlichen der asbestverarbeitenden Industrie und der Suva in den 1970er- und 1980er-Jahren gewusst haben oder hätten wissen müssen. Welche Schutzmassnahmen ergriffen wurden – oder eben gerade nicht.» Er verwies dabei auch auf das Bundesgericht in Lausanne. Dieses hatte im vergangenen Dezember in einem Urteil festgehalten, dass die Gefahren von Asbest bereits in den 1970er Jahren bekannt war.

Weiterzug wenig wahrscheinlich
Noch ist das EGMR-Urteil nicht rechtskräftig. Das Bundesamt für Justiz (BJ) hat drei Monate Zeit, es an die Grosse Kammer weiterzuziehen. Doch haben sechs von sieben Strassburger Richtern die Beschwerde gutgeheissen. Deshalb hält Hablützel einen Weiterzug für wenig wahrscheinlich. Das BJ schrieb auf Anfrage der Nachrichtenagentur sda, es werde «wie üblich» das Urteil «den betroffenen Behörden zukommen lassen». Unter Verweis auf die laufende Frist schrieb es, es sei noch «nicht endgültig».

Verjährungsrecht vor Revision
«Zurzeit können deshalb keine Aussagen über die Auswirkungen auf die Rechtsprechung und die Revision des Verjährungsrechts gemacht werden», schrieb BJ-Sprecher Folco Galli. Für Hablützel ist klar, dass künftig keine absolute Verjährungsfrist mehr gelte bei Industrien, wo Spätfolgen möglich sind – zum Beispiel auch bei der Gentechnik, der Nanotechnologie oder bei Mobilfunkantennen.

Für das Gesetzesprojekt für eine Verlängerung der Verjährungsfristen bei Personenschäden von heute zehn auf dreissig Jahre nach dem letzten Kontakt mit dem Material bedeute dies: «Zurück auf Feld eins», wie Hablützel sagt. Eine Revision müsse eben auch im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention stehen.

EGMR: Keine gerechte Lösung
Für Bauchweh in Bundesbern dürfte ein Satz im Urteil aus Strassburg sorgen: Die geplante Revision bringe «keine gerechte Lösung» für das Problem, heisst es darin. Der Bundesrat hatte die Botschaft erst im vergangenen November verabschiedet. Hablützel hatte den Entwurf damals als «falschen Ansatz» kritisiert.

Opferanwälte fordern, dass die Verjährungsfrist erst mit Ausbruch einer Krankheit beginnen soll. So brechen asbestbedingte Krankheiten oft erst Jahrzehnte nach dem Kontakt aus – zu spät, um in der Schweiz irgendeine Entschädigung zu erhalten.

Fairer Prozess verweigert
Ein solcher Fall lag den Richtern in Strassburg vor: Schweizer Gerichte hätten der Witwe eines Asbest-Opfers mit Verweis auf die Verjährungsfrist einen fairen Prozess verweigert, urteilten sie. Der Verstorbene hatte von 1965 bis 1978 beruflich Kontakt mit Asbest. 2004 wurde bei ihm Krebst diagnostiziert, eineinhalb Jahre später starb er. Fünf Tage danach reichte die Witwe eine Genugtuungsforderung ein. Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau und das Bundesgericht wiesen diese zurück.

Die Schweizer Unfallversicherung (Suva) habe ihre Schutzpflicht gegenüber dem Ehemann verletzt, urteilte das EGMR. Ebenso wie der ehemalige Arbeitgeber müsse die Suva solidarisch für dessen Tod haften. Das Bundesgericht hatte dagegen argumentiert, das Verantwortlichkeitsgesetz des Bundes sehe eine Frist von höchstens zehn Jahren vor. Die Frau hätte damit schon 1988 Genugtuung fordern müssen – 16 Jahre vor der Krebsdiagnose für ihren Mann. (awp/mc/pg)

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