
Millionen von Menschen reisen jeden Sommer aus dem Norden Europas über die Alpen an die  sonnigen Gestade des Mittelmeers oder besuchen in Scharen die historischen Städte Italiens,  Spaniens oder Griechenlands. Es sind indes nicht nur Sonne und weite Sandstrände, die  Touristenmassen locken, es ist die in der westlichen Gesellschaft seit Jahrhunderten verankerte  Vorstellung, gleichsam zur Wiege der eigenen Kultur zu pilgern, den Monumenten der Antike  und ihrer Wiedergeburt in der Neuzeit zu begegnen.
Neben den Griechen und Römern haben Renaissance und Barock hier bedeutende Meisterwerke von unvergleichlicher Schönheit entstehen lassen, die heute zu den bedeutendsten Weltkulturgütern zählen. Zudem verbindet sich in geradezu symbiotischer Weise in den Touristenhochburgen um das „Mare Nostrum“, wie die alten Römer ihr Mittelmeer nannten, Kulturgeschichte mit mediterranem Lebensstil, künstlerische Blüte in der Vergangenheit mit der Leichtigkeit des Seins der Gegenwart. Dieser ewigen Sehnsucht nach dem Süden widmet das Kunstmuseum St.Gallen nun eine Ausstellung, deren Spektrum von der klassischen Malerei des 19. Jahrhunderts bis zur zeitgenössischen Kunst reicht.
Italien, das noch schön seit dieser Zeit,
Du bist der Garten dieser Welt, der Dom,
Dem Reiz die Kunst wie die Natur verleiht.
Was gleicht Dir, selbst in der Verfallenheit?
Dein Unkraut selbst ist schön. Die Wüstenein
Sind reicher hier als sonstwo Fruchtbarkeit,
Die Feste glorreich! Fleckenloser Schein
Hüllt noch mit ew’gem Reiz selbst Deine Trümmer ein!
Lord Byron
Grand Tour „Grand Tour“ oder „Cavalierstour“ nannte die europäische Oberschicht die seit der Renaissance obligatorische, vor allem aber im 18. Jahrhundert überaus beliebte Bildungsreise nach Italien, Griechenland und ins Heilige Land. Die Grand Tour bildete gewissermassen den Abschluss einer anständigen Erziehung. Die nordeuropäischen Adeligen suchten insbesondere die bedeutenden Kunst- und Kulturstätten auf und besichtigten die berühmten Baudenkmäler der Antike, so beispielsweise die Ruinen von Pompeji oder die Tempel von Paestum. Sie bereisten malerische Landschaften und sprachen bei europäischen Fürstenhöfen vor, um untereinander Kontakte zu knüpfen. Neben dem Erwerb von Sprachkenntnissen diente die Grand Tour der Verfeinerung von Manieren und dem Erwerb von Weltläufigkeit. Namentlich der englische Adel schickte seine Sprösslinge auf mehrjährige Reisen in den mediterranen Raum, um sie zu bildungsbeflissenen Gentlemen heranzuziehen.
Defraoui, Silvie, Le phare, Aus der Serie Fragmente am Horizont, 1999
Eines der ersten Ziele einer jeden Kavaliersreise war Florenz mit seinen bedeutenden  Renaissancebauten. In Rom verbrachte man dann üblicherweise die Wintermonate, um sich  dem Besuch der antiken Monumente, der Museen und Kirchen zu widmen. Von dort führte der  Weg in die römische Campagna und nach Neapel, wo man seit 1763 auch die Ruinen von  Pompeji besichtigen konnte. Weiter ging es entweder nach Sizilien, oder man trat langsam die  Rückreise an, die nach Venedig und Vicenza führte, wo man die Villen Palladios studierte, um  abschliessend über den Brennerpass in die heimischen Gefilde zurückzukehren.
Künstler und Literaten
Künstler und Literaten  Die Grand Tour an die Geburtsstätten der Antike gehörte indes nicht nur zum Werdegang eines  Gentleman aus gutem Hause. Denselben Kulturpfaden folgten unzählige Literaten wie 1638 der  englische Dichter John Milton (1608–1674), 1786–1788 Johann Wolfgang von Goethe (1749–  1832) oder 1820 Lord Byron (1788–1824). Vor allem aber waren es bildende Künstler, die nach  Florenz oder in die Ewige Stadt pilgerten, um antike Vorbilder zu studieren, oder sich gleich im  lichtdurchfluteten Süden niederzulassen. So auch Arnold Böcklin (1827–1901), in dessen  Gemälden antike Götter und Nymphen ihr Unwesen treiben, oder Anselm Feuerbach (1829–  1880), dessen berühmte Nanna klassischen Vorbildern nachempfunden ist und das Ideal der  antiken Schönheit beschwört.
Catel, Franz Ludwig, Junger Italiener auf dem Rücken eines Esels sitzend, um 1830-1840
Die Sammlung des Kunstmuseums St.Gallen ist reich an Darstellungen südlicher Landschaften  und kulturhistorischer Stätten, wie sie sich im Schaffen von Camille Corot (1796–1875), Joseph  Anton Koch (1768–1839), Claude Monet (1840–1926), Carl Rottmann (1797–1850), Johann  Wilhelm Schirmer (1807–1863) oder Carl Spitzweg (1808–1885) in unterschiedlichsten  Ausformulierungen von idealisierender Überhöhung bis zur naturalistischen Studie oder zur  reinen Pleinair-Malerei niederschlagen. Nicht zu vergessen sind die Schweizer Kleinmeister  Johann Rudolf Bühlmann (1812–1890), der von 1836 bis 1871 in Rom lebte, oder der zu Unrecht  vergessene Johann Jakob Wolfensberger (1797–1850).
Johann Jakob Wolfensberger: der Schweizer William Turner
1797 im Weiler Rumlikon bei Russikon/ZH geboren, zog es Johann Jakob Wolfensberger bereits  früh in den Süden, wo er in Neapel erste Auftragsarbeiten für den europäischen Adel schuf.  1821 bereiste er Sizilien und zeichnete dort für den Herzog von Berwick antike Ruinen. Danach  lebte er mehrere Jahre in Neapel, u. a. im Hause des Prinzen von Hessen-Homburg. 1825  übersiedelte er nach Rom, wo er sich mit Horace Vernet (1789–1863) anfreundete, der dort bis  1835 die renommierte Académie de France leitete. Als Zeichnungslehrer war er für den Marquis  von Northampton, den späteren Lord Compton, tätig. 1832/35 bereiste er Griechenland und  arbeitete dort als Zeichner für den französischen Gesandten Baron de Rouen, vor allem aber für  den in Athen residierenden Otto I. von Bayern. 1838 stellte er seine Darstellungen antiker  Stätten mit grossem Erfolg erstmals in Zürich aus, anschliessend in Wien. 1840 weilte er in  London, fertigte dort für einen Verleger Ansichten aus Griechenland und Italien an. Bald zog es  ihn wieder in den Süden, nach Italien, bevor er sich 1847 endgültig in Zürich niederliess, wo er  1850 verstarb. Wolfensbergers Biografie ist in vielerlei Hinsicht exemplarisch für seine Zeit,  indem der Künstler die antiken Stätten besuchte, diese als Zeichner für die reiche  nordeuropäische Klientel kopierte und die europäischen Fürsten auf ihrer Grand Tour im  Zeichnen unterrichtete.
Unter dem Glanz der Nacht, unter dem berauschenden Dufte des Traumes steht gebannt der nordische Wanderer, er lauscht den Klängen im Lorbeerbaum und in seiner Brust ertönt die beseligende Lösung der sehnsüchtigen Frage. „Kennst du das Land?“ Johann Wolfgang von Goethe
Johann Jakob Wolfensberger, Tempel des Jupiter Olympius mit Akropolis, Athen, 1832-34 Die Faszination für die antiken Stätten und vor allem für das südliche Licht teilte Wolfensberger mit dem berühmten englischen Maler William Turner (1775–1851), der zwischen 1819 und 1828 mehrfach Italien bereiste. Neben den für die betuchte Klientel aufwendig ausgeführten Darstellungen von antiken Stätten in Rom oder Athen sind es vor allem Wolfensbergers freie Aquarelle, die sein Schaffen auszeichnen und sie noch heute so frisch erscheinen lassen. Unter Verzicht auf jegliche Binnenzeichnung entsteht der Vordergrund der Bilder allein durch tonige Flächen ineinander verlaufender Pinselstriche. Die Transparenz der Farbe vermittelt den Eindruck spontaner Skizzen, die in ihrer Lichthaftigkeit an den englischen Künstler William Turner erinnern.
Wolfensberger, Johann Jakob, Küste von Albano, undatiert
… bis heute 
Die von der Kunst geweckte Sehnsucht nach dem Süden, inzwischen längst zum billigen  Massentourismus verkommen, wollte nicht allein die Ursprünge westlicher Kultur erfahren, sie  bedeutete im 19. Jahrhundert vielmehr eine Suche nach einem verlorenen Arkadien, einem  befreiten Ort fernab von alltäglichen Sorgen, gesellschaftlichen und politischen Zwängen. Und  nach grossen Meistern von Arnold Böcklin bis Claude Monet zieht es auch heute immer noch  Kunstschaffende in den mediterranen Raum: Die Sehnsucht Süden hält an, auch wenn sich die  künstlerischen Perspektiven verändert haben mögen.
Das Phänomen Massentourismus schlägt sich beispielsweise in der mehrteiligen Fotoserie „Rimini“ von Michael Bodenmann (*1978) nieder, der den italienischen Badeort ausserhalb der Saison besuchte. Katalin Deér (*1965) wiederum präsentiert auf einer eigens für die Ausstellung entwickelten Tischinstallation eine Art Road Movie im Fotoformat. Auf ihren regelmässigen Fahrten in den Süden lässt sie sich von der Landschaft inspirieren und fängt mit ihrer Kamera architektonische Details ein, die einen entschieden anderen, persönlichen Blick auf die italienische Vergangenheit und Gegenwart werfen.
Auch Roman Signer (*1938) zog es in den 1990er Jahren wiederholt nach Italien, insbesondere an die rauchenden Schlünde des Stromboli, wo er vor der Kulisse eines erdzeitlichen Brodelns permanenter vulkanischer Tätigkeiten eine Reihe von „kleinen Ereignissen“, wie er seine Aktionen für gewöhnlich nennt, realisierte – gleichsam als feines Zeichen menschlicher Aktivität vor dem Hintergrund feuerspeiender Energien und Eruptionen.
Christoph Rütimann (*1955) seinerseits hat ein längerer Aufenthalt in Venedig zu einer Videoarbeit angeregt, in der er ausgehend von seinen Handläufen seine Videokamera entlang von Bootskanten und Mauervorsprüngen durch die Kanäle der Lagunenstadt führt und einen perspektivisch neuen Blick auf die Serenissima wirft.
Silvie Defraoui (*1935) wiederum versteht den mediterranen Raum als Ort der Begegnung unterschiedlicher Kulturen, des Aufeinandertreffens der westlichen und der arabischen bzw. asiatischen Welt. Ihre „Fragmente am Horizont“ (1999) visualisieren nicht nur die Sehnsucht nach einer anderen Kultur, sie sind zugleich Sinnbild für einen andauernden kulturellen Austausch. (kmsg/mc/th)