Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Und die Moral von der Geschichte?

Martin Neff

Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Letzte Woche ging in Zürich wieder mal die Street Parade über die Bühne. Unbekümmerte, ausgeflippte und äusserst exzentrische Darbietungen gehören da zur Tagesordnung. Parallel dazu findet in der alternativen Roten Fabrik jeweils das Lethargy Festival statt. Es versteht sich als weniger kommerzielle Alternative zum grossen Anlass rund ums Zürcher Seebecken. Gute Bekannte von mir – ebenfalls eher der alternativen Szene zuzuordnen – sind dort Mitorganisatoren mit viel Herzblut.

von Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

Die aufgehängte «Mammie», ein abwertender Begriff für afrikanische Kindermädchen, welcher auf die amerikanischen Kolonialzeiten im 18. Jahrhundert zurückzuführen ist, war dort Stein des Anstosses und musste von den Veranstaltern abgehängt werden. Vielleicht handelte es sich ja aber auch um eine «Namoradeira» aus dem brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais. «Namoradeira» bedeutet da «Mädchen, das sich verabredet» oder «Schätzchen» frei übersetzt aus dem Portugiesischen. Die Puppen sind offenbar bei Touristen sehr beliebt. Sei’s drum, es ging jedenfalls akribisch zu an der Lethargie. Auch ein Traumfänger, ein Kultobjekt aus der Ojibwe-Kultur, war nicht willkommen. Die Band «Lauwarm» muss neuerdings Konzerte absagen, weil weisse Bandmitglieder Dreadlocks tragen und schweizerdeutsch Reggae spielen. All das nennt sich kulturelle Aneignung.

Auch ich war schon früh Täter, war ich doch als Kind mehrere Jahre an Fasnacht als Indianer unterwegs. Und mein Ältester trug tatsächlich auch in seiner wilderen Phase Dreadlocks. Nur sprach man damals noch nicht von kultureller Aneignung, sonst hätte ich gute Argumente gehabt, dass er die Fusseln endlich abschneidet. Sie waren mir ein Gräuel, aber wir leben ja in einer liberalen Gesellschaft, was auch ein guter Vater respektiert.

Apropos Indianer: Ich habe in der Jugend fast alle Bücher von Karl May gelesen, Winnetou war mein Held, nicht Old Shatterhand, doch heute wäre das wahrscheinlich schwierig. Eben erst musste der deutsche Ravensburger Verlag zwei Bücher aus dem Handel nehmen, die im Zusammenhang mit dem eben in Deutschland angelaufenen Kinostreifen «Der junge Häuptling Winnetou» entstanden. Der Shitstorm in den sozialen Medien zwang den Verlag in die Knie. Der Genozid an den indigenen Völkern Nordamerikas dürfe nicht vernachlässigt oder gar verharmlost werden, gab der Verlag klein bei. Was würde Karl May wohl dazu sagen?

Christa Rigozzi, ihr Mann und ihre zwei Kinder verbringen derzeit Urlaub in Forte dei Marmi, einem mondänen Badeort an der toskanischen Küste, wo die Schönen und Reichen gerne Ferien machen. Dort hat sie es doch tatsächlich unterlassen, auf einer Fahrradtour einen Helm zu tragen, genauso wie ihr Mann. Und noch schlimmer, ihre Zwillinge trugen auch keine Helme und waren erst noch an den Füssen ungeschützt. In Italien ist alles kein Problem und auch nicht verboten, hierzulande erntet Rigozzi dafür aber einen Shitstorm. Die Welt der Korrektheit kennt mit ihrer aufgedunsenen Empörung keine Grenzen mehr, wie ich finde. Und dass sich enorm viele Menschen mit den beschriebenen Begebenheiten beschäftigen, spricht eigentlich Bände. Gäbe es nicht Wichtigeres zu tun, frage ich mich da.

Oh ja, das gäbe es. Zum Beispiel rechtzeitig Generatoren anschaffen, um dem Blackout im Winter vorzubeugen oder Holz hamstern, damit man dann auch noch heizen kann, was uns sogar einige ganz schlaue Politiker empfehlen. Ökobilanz? Nebensache, der Karren muss laufen, um jeden Preis! Deutschland reaktiviert Kohlekraftwerke, Kernkraft wird auch hierzulande wieder salonfähig, alle suchen Flüssiggas – notfalls auch durch Fracking gewonnenes, was vor zwei Jahren noch absolut verschrien war – und das, obwohl es eigentlich energetischer Wahnsinn ist.

Zudem haben viele, so auch wir, keine oder zu wenig Gasterminals. Die Panik der Energiekrise geht um und da hat die Welt noch Zeit für Instagram oder Tiktok? Klar. Doch, die Scheinmoral hat auch da Hochkonjunktur. Im Clash Royale, einem Handyspiel, haben neuerdings ganz viele Clans ihre nationalen Flaggen durch die ukrainische Flagge ersetzt, eine schier grenzenlose Solidarität, selbst bis Asien. Während des Syrienkonflikts gab es die nicht. Moral ist situativ und Empörung nicht immer modisch. Vielleicht geht es uns ja doch zu gut. Und würde ein Schock nicht gar heilende Wirkung entfalten?

In der Wirtschaft sind exogene Schocks oft mit einer solchen verbunden. Man denke an die letzte Finanzkrise, die den globalen Bankensektor in die Schranken verwies oder an die Erdölkrise, als man einsah, dass es ohne Sparen nicht geht. Heute aber herrscht eine Kultur des Überflusses, die auf keinen Fall angetastet werden darf und die Wirtschaftspolitik des letzten Jahrzehnts (und Corona) hat diese Kultur gefördert bis zum Abwinken. Krise der Banken? Der Staat hilf aus! Schuldenkrise der Staaten? Die Geldpolitik hilft aus! Coronakrise? Alle kriegen Schecks! Prävention oder Vorsorge? Fehlanzeige! Verzicht? Geht gar nicht! Und die Moral von der Geschichte? Gibt es nicht, dafür ein Heer von Moralisten und Moralistinnen.

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