Lawinen sind für Gletscher weltweit entscheidend

WSL

Das wissenschaftliche Team nähert sich dem Changri Nup-Gletscher, der stark von Lawinen gespeist wird (Nepal, Dezember 2023). (Bild: Marin Kneib)

Birmensdorf – Ein Glaziologie-Team unter Leitung der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL hat erstmals für sämtliche 200’000 Gletscher der Erde abgeschätzt, wie viel Lawinen zur Eis-Massenbilanz beitragen. Das internationale Forschungsteam zeigt, dass Lawinen entscheidend für das Überleben vieler Gletscher weltweit sind. Die Studie soll dazu beitragen, die Wasserressourcen und Naturgefahren im Zusammenhang mit der globalen Erwärmung besser vorhersagen zu können.

Gletscher bleiben stabil, wenn der Schnee, der auf ihre Oberfläche fällt, das Schmelzen in tieferen Lagen ausgleicht. In unserer sich erwärmenden Welt ist dieses Gleichgewicht gekippt und die Gletscher schrumpfen – mit Folgen für Wasserressourcen und Naturgefahren. «Um zu verstehen, wie sich Gletscher in Zukunft entwickeln werden, ist es wichtig zu wissen, wie viel Schnee auf ihre Oberfläche fällt», sagt Marin Kneib, Glaziologe an der WSL und der ETH Zürich.

Ein bisher wenig untersuchter Faktor dabei sind Lawinen. Beobachtungen einzelner Alpengletscher ergaben, dass zwischen bis zu 20 Prozent des Schnees, der auf sie fällt, aus dieser Quelle stammen. Nun hat Kneib zusammen mit einem internationalen Forschungsteam den Einfluss von Lawinen für sämtliche 200’000 Gletscher der Erde abgeschätzt – und wurde überrascht. «Ich hätte nie gedacht, dass dieser Effekt auch global so gross sein würde», sagt Kneib.

Schnee rutscht auf die Gletscher
So stammen bei den Alpengletschern im Schnitt 11 Prozent des Schnees aus Lawinen, im östlichen Himalaya sind es 19 Prozent und beim Spitzenreiter Neuseeland sogar 22 Prozent. Bei individuellen Gletschern können sogar über 50 Prozent des Schnees aus Lawinen stammen. In flacheren Gebirgen wie auf Island oder Grönland hingegen machen Lawinen kaum etwas aus. Die Resultate sind im Fachjournal Nature Communications publiziert.

Von Vorteil sind Lawinen für kleine Gletscher: Diese könnten dank ihnen trotz des Klimawandels länger überleben als Forschende erwartet haben. In den Alpen zeigen die Prognosen, dass Gletscher von weniger als einem Quadratkilometer Grösse – wie etwa der Läntagletscher am Rheinwaldhorn – dreimal weniger Eis verlieren würden als bisher angenommen, zumindest beim günstigsten Klimaszenario. Denn je kleiner Gletscher werden, desto stärker ist der Einfluss von Lawinen, weil diese vor allem auf die Ränder der Gletscher fallen. «Die Bedeutung von Lawinen auf Gletschern wird daher in Zukunft zunehmen, da sich die Gletscher zurückziehen», sagt Kneib. Eine Rettung ist das nicht: «Wir werden in den Alpen bis zum Jahr 2100 so oder so mehr als 80 Prozent des Eisvolumens des Jahres 2000 verlieren.»

Ausserdem bringen Lawinen nicht immer Schnee. Sie können auch viel Schnee von den Gletschern entfernen, wenn diese steil genug sind. In den tropischen Anden etwa rutschen acht Prozent des Schneefalls mit Lawinen vom Eis, Schnee, der dem Gletscher dann fehlt. Auch von steilen Eisflanken in hohen Lagen beseitigen die Lawinen Schnee. Damit dürfte mit der Erwärmung des Klimas das Eis an diesen Stellen eher verschwinden als angenommen, was wiederum das darunterliegende Gestein zu destabilisieren droht.

Wasserressourcen verstehen
Für die Untersuchung kombinierte das Forschungsteam zwei Modelle: Ein globales Gletschermodell und ein Modell, das berechnet, wie sich Schneemassen bewegen (Schneeverfrachtung). Gletschermodelle basieren auf Satelliten-Messungen der Eisoberfläche und bilden die weltweite Eismenge gut ab. Aber erst das Schneeverfrachtungs-Modell machte den grossen lokalen Einfluss von Lawinen sichtbar. «Wenn wir die Zukunft einzelner Gletscher in steilen Bergregionen besser kennen, können wir die Abflüsse in die Täler besser modellieren.» Dies wiederum hat Auswirkungen für die Wasserkraft, Naturgefahren und die Landwirtschaft.

Die Studie soll eine neue Generation von verfeinerten Gletschermodellen anregen. «Dies ist nur eine erste Schätzung eines bisher wenig untersuchten Prozesses», sagt Kneib. Um jedoch die Modelle und damit die Prognosen für einzelne Gletscher und Einzugsgebiete zu präzisieren, seien mehr Messdaten von Lawinen aus Beobachtungen vor Ort und mittels Fernerkundung nötig. (mc/pg)

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