UN-Generalsekretär Guterres ruft zur Deeskalation auf – Russland kündigt Raketentest an

UN-Generalsekretär António Guterres.

Moskau / München – Vor dem Hintergrund der schweren Spannungen im Ukraine-Konflikt hat UN-Generalsekretär António Guterres alle Beteiligten zur Deeskalation aufgerufen. Es gebe keine Alternative zur Diplomatie, sagte er am Freitag zum Auftakt der Münchner Sicherheitskonferenz. Die Atommacht Russland kündigte indes ein Manöver mit Einsatz ballistischer Raketen an. Die Übung an diesem Samstag steht laut Verteidigungsministerium unter Führung von Staatschef Wladimir Putin. Ziel sei, die strategischen Nuklearwaffen auf ihre Zuverlässigkeit zu testen. Am selben Tag wird das weltweit wichtigsten Expertentreffens zur Sicherheitspolitik fortgesetzt.

«Ich rufe alle Parteien auf, mit ihrer Rhetorik extrem vorsichtig zu sein. Öffentliche Stellungnahmen sollten das Ziel haben, Spannungen zu reduzieren, nicht diese anzuheizen», sagte Guterres. Er wies zudem auf die Gefahr einer unkalkulierbaren Eskalation hin. Diese könne auch durch Kommunikationspannen und Fehlannahmen ausgelöst werden.

«Es wäre eine Katastrophe»
Die russische Truppenkonzentration an der Grenze zur Ukraine und zunehmende Spekulation über militärischen Konflikt sehe er mit tiefer Sorge. Guterres: «Ich denke noch immer, dass es nicht passiert. Aber wenn es passiert, wäre es eine Katastrophe.» Moskau weist seit Wochen vehement Angriffspläne gegen das Nachbarland zurück.

Angespannte Lage
Im Konfliktgebiet in der Ostukraine blieb die Lage angespannt. Die Aufständischen in den Gebieten Donezk und Luhansk teilten mit, seit Mitternacht seien mehrere Dutzend Granaten auf ihr Gebiet abgefeuert worden. Gegenüber dem Vortrag sei der Beschuss deutlich intensiviert worden – trotz eines geltenden Waffenstillstands. Die ukrainische Armee sprach ebenfalls von knapp drei Dutzend Verstössen. Diese Angaben liessen sich nicht unabhängig überprüfen. Auch ob es bei den neuen Angriffen Opfer gab, war zunächst nicht bekannt. Die Seiten geben einander die Schuld am Aufflammen der Gewalt.

Russlands Aussenminister Sergej Lawrow zeigte sich «sehr besorgt» wegen des vermehrten Beschusses. Es kämen Waffen zum Einsatz, die nach dem Friedensplan von Minsk verboten seien, sagte er. Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) stellte vermehrte Verstösse gegen die vereinbarte Waffenruhe fest.

Seit 2014 kämpfen in den ostukrainischen Gebieten Donezk und Luhansk unweit der russischen Grenze vom Westen ausgerüstete Regierungstruppen gegen von Russland unterstützte Separatisten. Seit Wochen gibt es neue Spannungen. Der Westen äussert angesichts des russischen Truppenaufmarschs im Grenzgebiet zur Ukraine die Befürchtung, dass die Verlegung Zehntausender Soldaten der Vorbereitung eines Krieges dienen könnte. Russland weist das zurück.

USA: Russland verfügt über bis zu 190’000 Kräfte in und um Ukraine
Laut einem US-Diplomaten wird die Ukraine von 169’000 bis 190’000 Soldaten und Sicherheitskräften unter russischer Kontrolle bedroht. «Dies ist die bedeutendste militärische Mobilmachung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg», sagte Botschafter Michael Carpenter am Freitag bei einer Sitzung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Wien. Die aktuelle Schätzung enthalte Soldaten in der russischen Grenzregion, in Belarus und auf der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krim, sagte der Vertreter Washingtons. Ausserdem seien andere russische Sicherheitskräfte in diesen Gebieten sowie pro-russische Separatisten in der Ostukraine eingerechnet. Ende Januar sei man noch von rund 100 000 Kräften unter russischer Kontrolle ausgegangen.

US-Verteidigungsminister warnt vor Flüchtlingsbewegungen
Mit Blick auf die angespannte Lage warnte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin vor einer neuen Flüchtlingsbewegung in Europa. «Wenn Russland in die Ukraine einmarschiert, könnte Polen Zehntausende von vertriebenen Ukrainern und anderen Menschen über seine Grenze strömen sehen, die versuchen, sich und ihre Familien vor den Schrecken des Krieges zu retten», sagte Austin in Warschau nach einem Treffen mit Polens Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak.

Blaszczak sagte, Polen sei bereit zur Hilfe für diejenigen, die bei einem Angriff gezwungen sein würden, die Ukraine zu verlassen. Polen hatte in der vergangenen Woche bekanntgegeben, dass sich die Gebietsverwaltungen in seinem Land auf die Aufnahme von Flüchtlingen einstellten und Notunterkünfte vorbereiteten.

Austin wollte noch am Freitag mit seinem russischen Kollegen Sergej Schoigu telefonieren. Der Westen ist wegen vieler russischer Manöver beunruhigt. Dazu gebe es keinen Grund, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge in Moskau. Derzeit laufe eine Reihe von Übungen, «die für Spezialisten aus anderen Ländern absolut transparent sind». Mehrere Übungen sind bereits beendet.

Russische Armee will ballistische Raketen testen
An diesem Samstag will die russische Armee unter der Aufsicht Putins auch ballistische Raketen und Marschflugkörper abfeuern. Mit dabei ist auch der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko. Beide Länder halten noch bis zum kommenden Sonntag ein grossangelegtes Manöver im Süden von Belarus an der Grenze zur Ukraine ab. Russland testet mehrfach im Jahr Raketen. Das Land und die USA sind die beiden mit Abstand grössten Atommächte der Welt.

Über das weitere Vorgehen in der Ukraine-Krise wollte US-Präsident Joe Biden am Freitag mit Verbündeten telefonisch reden. Neben Kanadas Premierminister Justin Trudeau sollen führende Politiker aus Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Italien, Polen und Rumänien an dem Gespräch teilnehmen, teilte Trudeaus Büro mit. Auch die Europäische Union und die Nato seien vertreten.

Die Krise zwischen dem Westen und Russland dürfte die Münchner Sicherheitskonferenz dominieren. Zu dem Expertentreffen reisen 30 Staats- und Regierungschefs an, ausserdem mehr als 80 Minister. Für US-Vizepräsidentin Kamala Harris wird es der erste Auftritt vor einem europäischen Publikum sein. Vertreter der russischen Regierung nehmen erstmals nicht an dem Treffen teil – erstmals seit 20 Jahren. (awp/mc/pg)

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