«Die Geschichte von Pakistan und auch Indien ist eng mit dem Kaschmir-Konflikt verbunden»

Indische Paramilitärs stehen am 11. Mai 2025 Wache entlang einer Strasse in Srinagar, einer Stadt in der umstrittenen Region Kaschmir.

Nach dem blutigen Anschlag auf indische Touristen in Kaschmir ist der jahrzehntelange Konflikt im indischen Subkontinent neu aufgeflammt. Die Konfliktforscherin Dr. Pascale Schild ordnet die Geschehnisse ein und erklärt, warum die Menschen in Kaschmir seit Jahrzehnten zwischen den Fronten zerrieben werden.

Ende April wurde ein neues blutiges Kapitel im Kaschmir-Konflikt geschrieben: Militante töteten im indisch kontrollierten Pahalgam 26 Zivilistinnen und Zivilisten. Für Indien war schnell klar, dass Pakistan hinter dem Anschlag stecken muss. Seit ihrer Unabhängigkeit 1947 bekriegen sich die beiden Länder in offenen Gefechten. Die internationale Gemeinschaft ist bemerkenswert ruhig in dem Konflikt, in dem sich zwei Atommächte gegenüberstehen. Auch wenn seit dem 10. Mai ein Waffenstillstand herrscht: es ist ein fragiler Frieden.

Pascale Schild, wie bedrohlich ist die Situation in Kaschmir derzeit?

Es ist sicher so, dass die Beziehungen zwischen Indien und Pakistan auf einem Tiefpunkt angelangt sind. Unmittelbar nach dem Anschlag haben beide Länder ihre Kriegsrhetorik hochgefahren. Momentan sieht die Situation ähnlich aus wie bei der letzten Eskalation 2019.

Was ist damals passiert?

Ich würde es als «Säbelrasseln» bezeichnen. Indien hat Ziele in Pakistan bombardiert, Pakistan hat zurückgeschossen und einen indischen Soldaten gefangen genommen. Dieser wurde später der indischen Armee ausgehändigt. Danach war der offene Konflikt schnell wieder gebannt, es wurden auch keine Zivilisten getötet oder verletzt. Aber die Leute in Kaschmir haben Angst. Wenn Indien einen Vergeltungsschlag durchführt, werden sie die Leidtragenden sein, die Gefechte werden in ihren Dörfern stattfinden.

Dr. Pascale Schild ist Lehrbeauftragte am Fachbereich European Global Studies der Universität Basel und Senior Researcher bei Swisspeace. Sie ist Sozialanthropologin und forscht zu zivilgesellschaftlichen Friedensinitiativen in Kaschmir und zur transnationalen Kaschmirischen Freiheitsbewegung (Bild: Catherine Weyer/Universität Basel).

Sowohl Indien als auch Pakistan besitzen Atombomben. Wie gross ist die Gefahr, dass die Länder diese einsetzen?

Niemand hat ein Interesse daran, dass der Konflikt eskaliert, weder Indien noch Pakistan. Deshalb schätze ich die Gefahr als klein ein. Aber natürlich: Die Gefahr eines offenen Krieges ist gegeben, und damit auch die Möglichkeit, dass Atombomben eingesetzt werden. Aber nochmal: Ich glaube nicht, dass es so weit kommen wird.

Die Vereinten Nationen haben Indien und Pakistan dazu aufgerufen, im Konflikt zu deeskalieren. Wieso sprechen sie nicht von Friedensverhandlungen?

Frieden im Sinne einer Konfliktlösung zu fordern, wäre wohl utopisch. Die Geschichte von Pakistan und auch Indien ist eng mit diesem Konflikt verbunden: Pakistan versteht sich als Heimat der Muslime und will deshalb Kaschmir mit seiner mehrheitlich muslimischen Bevölkerung unter seine Schirmherrschaft bringen. Indien sieht sich als säkularen Vielvölkerstaat und will die Region, in der eine Vielzahl von Bevölkerungsgruppen lebt, deshalb zu sich holen. Allerdings muss man sagen, dass dieses indische Selbstverständnis nicht mehr der Realität entspricht: Mit dem hindu-nationalistischen Umbau des Staates unter Premierminister Narendra Modi ist die Toleranz gegenüber Minderheiten stark geschwunden und man will ihnen auch keine Sonderrechte mehr zugestehen. Hier sehe ich einen religiös begründeten Herrschaftsanspruch einer Mehrheit über ihre Minderheiten und nicht mehr die Idee des säkularen Vielvölkerstaats. Indien beruft sich in Kashmir auch auf die Geschichte und ihren Deal mit dem damaligen Maharadscha (siehe «Kaschmir-Konflikt» unten).

Welche Rolle spielen innenpolitische Strukturen bei der Aufrechterhaltung des Konflikts?

Was man nicht unterschätzen darf: In beiden Ländern hat das Militär einen hohen Stellenwert und viel Macht. Sie beschwören ihre gegenseitige Feindschaft herauf, weil ihre Machthaber aus dieser Feindschaft ihre Legitimität ziehen. Die internationale Gemeinschaft hofft, dass sich die beiden Länder in Ruhe lassen und ihre Atomwaffen nicht in Stellung bringen. Mehr scheinen sie von dieser Region nicht zu erwarten, und sind sie auch nicht bereit zu helfen, etwa mit diplomatischem Druck auf eine Lösung des Konflikts zu drängen.

«Die Beziehungen zwischen Indien und Pakistan sind auf einem Tiefpunkt angelangt.»

Pascale Schild

Wieso ist Kaschmir für die beiden Länder so wichtig? Gibt es wirtschaftliche Interessen?

Ein Rohstoff, der Kaschmir interessant macht, ist das Wasser. Der Indus beispielsweise entspringt in Tibet und verläuft dann über Nordindien und Kaschmir nach Pakistan. Pakistan braucht das Wasser für seine Reis- und Weizenproduktion, Indien möchte Wasserkraftwerke bauen. Das ist aber nur ein Nebenschauplatz. Viel wichtiger ist Kaschmir wegen seiner historischen Bedeutung. Die beiden Länder kämpfen darum, weil es zu ihrem Gründungsmythos gehört. Und weil sich der Konflikt über Jahrzehnte verhärtet hat, können beide Länder kaum mehr von ihren Positionen abweichen.

Welche Rolle spielt China in dem Konflikt?

China ist offiziell neutral, wenn es um den Konflikt zwischen Indien und Pakistan geht. Allerdings hat das Land viel Geld in die Infrastruktur in Pakistan und in den von Pakistan kontrollierten Teil von Kaschmir investiert und ist ein wichtiger Handels- und Bündnispartner von Pakistan. Im Norden von Kaschmir kontrolliert China ausserdem ein Gebiet, das Indien beansprucht, nicht aber Pakistan. Das ist für die Volksrepublik wichtig, weil sie dort einen Highway nach Tibet gebaut haben, um das Land an China anzubinden. Darüber hinaus hat China allerdings, soweit mir das bekannt ist, keine Interessen an Kaschmir.

Warum waren bei dem Anschlag indische Touristen das Ziel?

Indien und sein Premier Modi haben den Tourismus in der Region bewusst gefördert. Als Indien den Sonderstatus von Kaschmir 2019 aberkannt hat, begründete es dies auch damit, dass man Kaschmir nun zu einem «richtigen» Teil Indiens formen wolle, um Frieden und Entwicklung zu fördern. Der Tourismus ist für Modi das Zeichen, dass dies erreicht wurde. Für diesen Frieden hat er auch nicht vor Repressionen, Menschenrechtsverletzungen und einer verstärkten militärischen Besatzung zurückgeschreckt. Dennoch hat es das Militär nicht geschafft, die indischen Touristen vor diesem Anschlag zu schützen. Das macht die Politik des indischen Premierministers angreifbar.

«Die Leute, die in dieser Region leben, sind Geiseln des Konflikts zwischen Indien und Pakistan. Sie sind der internationalen Gemeinschaft aber ziemlich egal.»

Wurde der Anschlag, wie von Indien vorgeworfen, von Pakistan orchestriert?

Inwieweit die pakistanische Regierung involviert ist, wissen wir schlicht nicht. Aber die Tatsache, dass Indien Hausdurchsuchungen in Kaschmir durchführt und sogar Häuser von Verdächtigen und deren Familien abbrennt, zeigt doch, dass auch Indien die Täter in Kaschmir selbst vermutet. Das ist ein Konflikt, der international oft vergessen geht: Auch Kaschmir ist unzufrieden mit seiner Situation. Teile der Bevölkerung Kaschmirs kämpfen seit Jahrzehnten für die Freiheit von Indien. Bei diesem Freiheitskampf greifen militante Gruppen auch auf gewalttätige Mittel zurück, wie Anschläge. Der Nährboden dieser Gewalt ist die indische Besatzung und nicht Pakistan, wobei das Land in der Geschichte militante Gruppen auch unterstützt und beherbergt hat. Bei diesem Anschlag halte ich eine direkte Beteiligung aber eher für unwahrscheinlich.

Was will denn die Bevölkerung von Kaschmir?

Das wissen wir nicht genau, weil sie nie gefragt wurde. Und die Antwort wird auch nicht einfach ausfallen: In Kaschmir leben etwa 18 Millionen Menschen, die mehr als ein Dutzend verschiedene Sprachen sprechen. Und auch wenn es eine muslimische Mehrheit gibt: In einigen Gegenden leben mehrheitlich Buddhisten oder Hindus. Es ist ein äusserst heterogenes Gebiet und entsprechend würden die Leute auch unterschiedliche Lösungen bevorzugen, wie die Anbindung an Pakistan, die Anbindung an Indien oder die Unabhängigkeit.

Besteht die Möglichkeit, dass Kaschmir unabhängig wird?

Im Moment sicher nicht. Dafür sind die Fronten von Pakistan und Indien zu verhärtet. Aber die Möglichkeit eines Referendums besteht theoretisch: Nach dem ersten Indisch-Pakistanischen Krieg gab es mehrere UN-Resolutionen, die eine Volksabstimmung in Aussicht stellten, sobald sich die Armeen der beiden Länder zurückgezogen haben. Mit dieser Abstimmung sollte die Bevölkerung Kaschmirs entscheiden können, ob sie zu Indien oder Pakistan gehören will. Die Option der Unabhängigkeit wurde später auch diskutiert. Mittlerweile ist die Abstimmung aber in weite Ferne gerückt. Auch, weil Indien heute strikt gegen das Referendum und gegen die Einbindung der UNO im Konflikt ist. Für Indien ist Kashmir ein bilateraler Konflikt. Dabei wäre allein die Diskussion um dieses Referendum enorm wichtig, um weiterführende Gespräche um die Zukunft der Region anzustossen und zu verstehen, welche Bedürfnisse in Kaschmir vorherrschen. Im Moment sind die Leute, die in dieser Region leben, Geiseln des Konflikts zwischen Indien und Pakistan. Sie sind der internationalen Gemeinschaft aber ziemlich egal – Hauptsache, die beiden Atommächte halten ihren Konflikt unter Kontrolle. (Universität Basel/mc/ps)

Kaschmir-Konflikt

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