Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Deutschland Frankreich

Martin Neff

von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – 2017 ist noch nicht einmal zur Hälfte vorbei, dennoch lässt sich schon heute ein schöne – zumindest aus Sicht der Börsianer – positive Bilanz ziehen. Nahezu alle weltweiten Aktienindizes notieren deutlich im Plus. Zwei Gründe dürften dafür massgebend sein. Zum einen die globale Konjunktur, die nun wieder synchron aufwärts verläuft und zwar fast überall in der Welt, auch in Brasilien und Russland, die wohl endlich aus der Rezession herausgefunden haben. Zum anderen haben sich die politischen Risiken – wiederum aus Sicht der Börsianer – fast schon pulverisiert.

Entwarnung vor politischen Risiken
Was politische Risiken betrifft, neigen die Finanzmärkte nun schon fast dazu, vollständige Entwarnung zu geben. Mit Donald Trump sind sie bekanntlich äusserst geduldig. Nach den Wahlen in der Niederlande und in Frankreich haben die Sorgen, welche Europa verursachte, abgenommen. Dort ziehen die Märkte das Durchmogeln der Eurozone einem harten Kurswechsel vor, getreu dem Motto: lieber einen faulen Euro als ein ungewisser Neubeginn. Die Angst vor einem grossen Schritt war grösser, als der Mut, das System neu auszurichten. Dies erklärt auch die Erleichterungsrallye nach dem Sieg Emmanuel Macrons an den französischen Vorwahlen, der als Garant für den Fortbestand der Währungsunion interpretiert wurde.

Auf Macron ruhen zweifellos grosse Hoffnungen, dass er das angeschlagene Frankreich wieder einigermassen fit machen kann. Allerdings wird dies nicht so einfach sein, wie der Gewinn der Wahlen, denn Macrons Macht ist keineswegs gesichert, da eine Umsetzung seiner ambitiösen Reformpläne wohl nur mit anständiger Mehrheit in der Nationalversammlung möglich werden kann. Und die ist noch keineswegs gesichert, doch das sind zum heutigen Zeitpunkt Details für die Märkte. Mit Donald Trump, der bereits die Erfahrung machen musste, dass sich ohne komfortable Mehrheit in der Legislative nur sehr wenig bewegen lässt, üben sie sich bekanntlich auch in Geduld.

Mut in Frankreich, Unmut in Deutschland
Die Wahl Macrons kann durchaus als mutiger Entscheid der Stimmbürger interpretiert werden. Sie hatten schlichtweg genug von einer Politik des verwalteten Niedergangs, den Frankreich seit gut zwanzig Jahren mitmacht. In Deutschland hingegen scheint Mut weniger gefragt, wie uns das in dieser Klarheit von niemanden erwartete Wahlergebnis im bevölkerungsreichsten Bundesland Deutschlands vor Augen führt – im Zweifelsfall für das Establishment, so muss die Wahl in Nordrheinwestfalen (NRW) interpretiert werden. Oder besser: keine Experimente, solange es gut geht. In Frankreich war die Schmerzgrenze offenbar überschritten, in Deutschland hingegen lässt man sich weiterhin von Angela Merkel einlullen, schliesslich läuft es wirtschaftlich rund.

Die Bundestagswahl im Oktober haben die Märkte mit der Wahl in NRW schon antizipiert und wer dann mit wem regiert, spielt aus Sicht der Marktteilnehmer keine Rolle, solange «Mutti» das Zepter in der Hand hält. Merkel wird zwar bestätigt werden, aber nicht weil sie überzeugt hat, sondern weil sie alternativlos ist. Ausser Stimmung in der eigenen Partei zu erzeugen, hat Martin Schulz bisher wenig zu Stande gebracht, zumindest nichts, was realpolitisch konkret fassbar wäre. Sein am Dienstag vorgestellter Zukunftsplan für Deutschland ist so abgedroschen wie das Parteiprogramm der Sozialdemokraten. Bildung, Forschung, Infrastruktur zu stärken, sind Allgemeinplätze, die jeder Politiker bemüht und längst kein Kassenschlager mehr. Kein Wunder setzen die Deutschen auf Bewährtes, so langweilig es auch sein mag. Hauptsache, es tut nicht weh. Merkel bietet unseren Nachbarn im Norden zwar kein Spektakel, dafür biedere Alltagskost, die immerhin satt macht.

Europa auf der Überholspur
Nachdem nun wenigstens wieder etwas mehr politische Gewissheit herrscht, konzentrieren sich die Marktteilnehmer wieder auf ihre Kernkompetenzen, die Interpretation von Konjunkturdaten und prognosen sowie die Beurteilung der Quartalsabschlüsse der Unternehmen. Es sieht momentan tatsächlich recht gut aus in Europa. Brexit zum Trotz zeigen die aktuellen Konjunkturindikatoren nach oben und das Gefälle zwischen Zentrum und Peripherie scheint sich einzuebnen. Die europäischen Aktienmärkte haben deshalb jüngst auch gegenüber den amerikanischen Leitindizes wieder etwas Boden gut gemacht. Viele Analysten trauen Europa mittlerweile wieder mehr (zu). Nur so lässt sich der spürbare Kapitalzufluss in europäische Aktien deuten, welcher seit geraumer Zeit zu beobachten ist. Ähnlich ergeht es Brasilien, dessen unbeliebter Präsident Michel Temer unbeirrt einen Reformprozess vorantreibt. Eben erst hat er die blockierten Arbeitsgesetze gelockert. Nun versucht er, die Rentenreform durchs Parlament zu bringen. Gut 70% hat die Börse in Brasilien seit Anfang 2016 zugelegt; mehr Applaus geht nicht. Das wäre auch Macron zu gönnen, aber erst einmal muss der liefern. Ansonsten werden die Märkte bald einmal die Geduld verlieren.

Nur kein Überschwang
Soll ich jetzt Aktien kaufen, europäische, russische oder brasilianische zum Beispiel, wenn sich der Horizont so aufhellt? Ich würde dazu raten, aber nur bei einer realistischen Erwartungshaltung und wenn Sie über gute Nerven verfügen. Denn Rückschläge sind beim heute erreichten Niveau wohl unvermeidlich. Zumal die Märkte schon sehr vieles äusserst positiv eingepreist haben. Überschwang ist aber ein genauso schlechter Ratgeber wie Gier. Diversifiziert und eher defensiv scheint hingegen eine gute Strategie. Besser drei bis vier Prozent Dividende, statt hundert Prozent Kursfantasie, die sich dann in Luft auflöst, ist meine Devise. Stutzig macht mich allerdings, dass mir jüngst ein Taxifahrer einen ganz heissen Tipp gegeben hat. Das letzte Mal war dies 2007 der Fall, ein Jahr vor dem grossen Absturz. (Raiffeisen/mc)

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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