Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Freiheit unter Druck

Fredy Hasenmaile

Fredy Hasenmaile, Chefökonom Raiffeisen. (Foto: Raiffeisen)

Nein, dies ist keine Rede zum 1. August, sondern ein Wort zum Abschluss eines denkwürdigen und bewegten Jahres. Trotz zahlreicher Hiobsbotschaften im Verlauf der vergangenen Monate geht das Jahr einigermassen glimpflich zu Ende. Dennoch will sich keine echte Erleichterung einstellen, das Gefühl vielfältiger Bedrohungen ist nicht kleiner geworden. Und dafür gibt es einen Grund: Die Idee der Freiheit ist unter Druck.

von Fredy Hasenmaile, Chefökonom Raiffeisen

Chinas Aufstieg verändert das Gleichgewicht
Das Ringen zwischen westlichen Demokratien und Autokratien ist ein globaler Systemwettbewerb, in dem sich westliche Staaten für Freiheit und Menschenrechte einsetzen, während sich autokratische Länder wie Russland und China als alternative Ordnungsmodelle präsentieren. Sie versuchen, ihren Einfluss durch wirtschaftlichen und militärischen Druck, gezielte Propaganda und die systematische Aushöhlung internationaler Normen auszuweiten. Insbesondere der Aufstieg Chinas zur Weltmacht droht das globale Gleichgewicht zu verschieben. Autokratische Staaten, allen voran die beiden genannten, investieren enorme Summen, um in westlichen Gesellschaften Verwirrung zu stiften, demokratische Institutionen zu schwächen und die ihnen zugrunde liegenden Werte zu untergraben.

Verstummte Regierungskritiker in den USA
Laut dem V-Dem Institut der Universität Göteborg gab es 2024 erstmals seit 20 Jahren mehr autokratische Staaten (91) als demokratische (88). Zudem befinden sich deutlich mehr Länder in einem Prozess der Autokratisierung, im Zuge dessen demokratische Errungenschaften messbar zurückgehen. Die derzeit wohl beunruhigendste Entwicklung vollzieht sich jedoch ausgerechnet in jenem Land, das lange als Inbegriff der Freiheit galt: den Vereinigten Staaten von Amerika. Ein verlässlicher Gradmesser für die Qualität einer Demokratie ist der Preis, den Bürgerinnen und Bürger zahlen, wenn sie sich offen gegen die Regierung stellen. Im Idealfall liegt dieser nahe null. Doch in den USA ist das nicht mehr der Fall. Systematisch geht die amerikanische Regierung gegen Kritiker vor, lässt das FBI gegen sie ermitteln oder die Staatsanwaltschaft beziehungsweise die Steuerbehörde gegen sie vorgehen. Viele kritische Stimmen sind inzwischen verstummt. Selbst gegen umstrittene Entscheidungen der Regierung regt sich erstaunlich wenig Opposition.

Erosion der Pressefreiheit
Die beliebteste Waffe gegen die Demokratie in den sich autokratisierenden Ländern ist die Beschneidung der Medien- und Meinungsfreiheit. An deren Zustand lässt sich erkennen, in welche Richtung sich ein Land bewegt. Die Regierung unter Donald Trump pflegt ein angespanntes, oft konfrontatives Verhältnis zu den Medien. Kritische Berichterstattung wird als «Fake News» diskreditiert, der Zugang zu Informationen durch den Entzug von Akkreditierungen erschwert, die Presse als «Feind des Volkes» diffamiert oder mit Klagen überzogen. Gleichzeitig werden regierungsnahe «neue Medien» bevorzugt behandelt. Hinzu kommen Bemühungen zur massiven Konsolidierung der Medienlandschaft und zur politischen Einflussnahme auf Medienkonzerne, wie jüngst bei der Übernahme von Warner Bros, was die Medienlandschaft in den USA nachhaltig verändert. Seit Kurzem geht die US-Regierung noch einen Schritt weiter: Auf einer eigens dafür eingerichteten Webseite werden Journalistinnen und Journalisten namentlich an den Pranger gestellt, die nach Ansicht der Regierung falsche, einseitige oder irreführende Geschichten veröffentlichen.

Gewaltenteilung auf dem Prüfstand
Die Erosion der Pressefreiheit hat in den USA nicht erst seit Trumps zweiter Amtszeit eingesetzt. In der weltweiten Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen ist die USA bereits 2024 um 10 Ränge abgestürzt und belegt aktuell noch den Rang 57. Zum Vergleich: Die Schweiz liegt auf Rang 9. Anstatt sich für den Schutz und die Förderung der Pressefreiheit einzusetzen, fügt die Regierung Trump dieser weiteren Schaden zu. Mit ihrem Vorgehen rüttelt sie an einem Fundament der amerikanischen Demokratie. Auch anderweitig wird das System der «Checks and Balances», das eine gefestigte Demokratie kennzeichnet, gegenwärtig durch Trump herausgefordert. Mit einer Flut von Dekreten regiert Trump am Parlament und bestehenden Gesetzen vorbei und ignoriert richterliche Anordnungen, die seine Dekrete stoppen sollen. Er beruft sich dabei auf Notstände oder die nationale Sicherheit, etwa im Zollstreit. Mit Spannung wird deshalb der anstehende Entscheid des Supreme Court erwartet, der über die Rechtmässigkeit der «reziproken» Zölle befinden wird. Das Urteil dürfte weniger wegweisend sein für die Zölle an sich, da die Trump-Regierung solche auch basierend auf anderen Gesetzen erlassen kann, als vielmehr für die Gewaltenteilung. Eine Niederlage von Trump in dieser für ihn so bedeutsamen Sache würde die Rolle des Kongresses stärken und unterstreichen, dass der US-Präsident nicht allmächtig ist.

Freiheit beginnt im Kleinen
Der Oberste Gerichtshof der USA hat bis spätestens Juni kommenden Jahres Zeit, um seinen Entscheid zu fällen; viele Juristen rechnen allerdings mit einem Entscheid bereits im Januar 2026. Früh im nächsten Jahr dürfte somit ein wegweisendes Urteil vorliegen. Auf diesen Showdown in den USA haben wir in der Schweiz keinen Einfluss. Im globalen Ringen um demokratische Freiheiten sind wir in vielerlei Hinsicht nur Zaungäste. Was wir allerdings tun können, ist, die Schweiz als leuchtendes Beispiel einer stabilen und konsensorientierten Demokratie zu bewahren und alles dafür zu tun, dass wir nie in eine vergleichbare Situation, wie sie derzeit in den USA herrscht, geraten. Die Fehlentwicklungen in den USA haben schleichend schon sehr viel früher begonnen. Mit einer Polarisierung der Gesellschaft, mit zunehmender Verrohung des politischen Tons und Gehässigkeiten hüben wie drüben des politischen Spektrums. Solche Tendenzen lassen sich auch hierzulande beobachten. Nicht wenige altgediente Politiker, mit denen ich in den vergangenen Wochen gesprochen habe, erwägen, sich aus dem politischen Prozess zurückzuziehen. Unabhängig voneinander berichten sie, dass immer mehr Ideologie und Rücksichtslosigkeit Einzug in die politische Arbeit halten und den Diskurs erschweren. Wehret den Anfängen!

Mit diesen nachdenklichen Zeilen verabschiede ich mich in die Weihnachtspause. Die anstehende Weihnachtszeit bietet Gelegenheit, innezuhalten, zurückzublicken, bei sich selbst zu beginnen und sich zu fragen, wo man mehr als Brückenbauer hätte wirken können – sei es im Beruflichen wie im Privaten. Solche Gedanken wünsche ich Ihnen nebst einer friedvollen und geruhsamen Zeit. Und ich hoffe, Sie im neuen Jahr wieder als Leserinnen und Leser begrüssen zu dürfen. (Raiffeisen/mc)

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