Ich war noch ein Dreikäsehoch, als die Tour de Suisse in der Nähe meines Heimatortes am Zürichsee vorbeiführte. Meine Eltern wollten sich das nicht entgehen lassen und fuhren mit uns Kindern an die Rennstrecke, wo wir warteten und warteten. Offenbar hatten es die Velorennfahrer nicht eilig und sich für einen Bummeltag entschieden. Das Fahrerfeld blieb geschlossen und hatte Stunden Verspätung auf die Marschtabelle. Für mich als Siebenjährigen fühlte es sich wie eine Ewigkeit an. Das Warten wollte kein Ende nehmen, und auch die gesperrte Strasse bot keine Unterhaltung.
von Fredy Hasenmaile, Raiffeisen Chefökonom
Flüchtiges Spektakel
Ich studierte gerade zum x-ten Mal die Ameisenstrasse entlang des Randsteins, als plötzlich jemand rief: «Sie kommen!» Das ganze Feld der Radrennfahrer in einem Pulk. Bevor ich überhaupt richtig auf die Strasse sah, waren die Spitzenfahrer bereits vorbei. Und ehe ich begriff, dass dies der Moment war, auf den ich stundenlang gewartet hatte, war das gesamte Feld vorbeigerauscht. Einen Luftzug spürte ich noch, dann war der Hinterste um die nächste Kurve verschwunden, und ich konnte nicht mal sagen, welche Nummer er trug oder welche Farbe sein Trikot hatte. Es folgte nur noch der endlose Tross der Mannschaftswagen. Der ganze Spuk hatte bloss wenige Sekunden gedauert. Sekunden! Erst allmählich dämmerte mir, dass es das schon gewesen war. Das Ganze verlief so schnell, dass ich nicht in der Lage war, auch nur das Bild eines einzigen Fahrers im Kopf zu speichern. Bloss eine verschwommene, strampelnde Masse, die auf abschüssiger Strasse an mir vorbeizischte, blieb mir im Gedächtnis haften. Ungläubig schaute ich zu meinen Eltern auf – betrogen um das mir versprochene Spektakel – und erntete nur ein verlegenes Lächeln. Gut möglich, dass es anschliessend noch eine Glace gab, doch meine bodenlose Enttäuschung – um nicht zu sagen mein Trauma – konnte das auch nicht mehr korrigieren.
Chance zur Wiedergutmachung
Es gab daher viel gutzumachen, als ich in diesen Sommerferien zufällig erfuhr, dass die Tour de France unweit unseres Ferienortes vorbeiführte. Natürlich wollte ich auch meinen Kindern ein solches Erlebnis ermöglichen. Gewitzt wegen meines Kindheitstraumas, machte ich einen Streckenabschnitt mit einer respekteinflössenden Steigung ausfindig, die das Tempo der Fahrer zwangsläufig reduziert. Die Anreise war entsprechend lang, und dem ausgewählten Abschnitt konnten wir uns letztlich nur mit einem längeren Fussmarsch nähern. Doch der Aufwand war es wert. Unser Standort erlaubte den Blick durch den Wald auf eine tieferliegende Wegstrecke, die die Fahrer Minuten zuvor passieren mussten. So wussten wir stets, was als Nächstes kommt und vor allem wann.
Der Moment
Vier Fahrer hatten sich gemäss Lautsprecherdurchsagen abgesetzt. Deren Passage quittierten wir mit grossem Jubel und liessen auch der dahinter folgenden, zweiten Gruppe von drei Fahrern, die versuchte, den Anschluss an die Spitzengruppe herzustellen, unsere Anerkennung zukommen. Dann folgte das Hauptfeld, in dem die Equipe des Fahrers im Gelben Trikot das Tempo diktierte. Dank Smartphone war es ein Leichtes, das vorbeirauschende Feld im Zeitlupenmodus festzuhalten, sodass wir das flüchtige Spektakel immer wieder im Replay anschauen konnten. Mit einigem Abstand folgte dann ein zweites Peloton aus abgehängten Fahrern, die gemeinsam versuchten, ihren Rückstand in Grenzen zu halten, um nicht die Karenzzeit bei der Zielankunft zu überschreiten. Umringt von slowenischen, dänischen und natürlich französischen Radsportfans schrien wir den vorbeifliegenden Fahrern «Hopp Schwiiiiz!» zu – in der Hoffnung, allfälligen Landsmännern würde die unerwartete Präsenz einiger Schweizer Fans am Strassenrand einen Extraschub Motivation bescheren.
Erst im Replay der Zeitlupe entdeckten wir die vier tapferen Schweizer Fahrer, denen unsere Anfeuerung für einen Moment ein Lächeln auf das angestrengte Gesicht zu zaubern schien. Für uns war das Lohn genug und ich konnte das Velorenntrauma meiner Kindheit abhaken.
Dabeisein ist alles
Natürlich bleibt der Besuch eines Velorennens ein absurdes Verhältnis von Aufwand und Ertrag. Man wartet vier Stunden, um vier Sekunden zu erleben. Aber genau darin liegt der Reiz. Denn ein Radrennen ist weniger ein Sportereignis als vielmehr ein soziales Ritual. Es geht ums Warten, ums Picknicken am Strassenrand, ums Fachsimpeln mit Fremden über Taktik und Teamarbeit, als wäre man selbst Coach von Tadej Pogačar. Es geht ums Klatschen für die Begleitfahrzeuge, die noch vor den Fahrern vorbeiziehen – als wären Autos mit Ersatzrädern die eigentlichen Stars.
Im Grunde ist es eine Warteübung von fast spiritueller Dimension. Eine Mischung aus Pilgerfahrt und Geduldstraining. Vergleichbar höchstens mit dem Campieren auf dem Trottoir, um Sport- oder Konzerttickets zu ergattern, oder beim Verkaufsstart eines neuen iPhones. Verrückt wirkt es allemal. Und doch – wer es einmal erlebt hat, versteht es. Denn wenn die Fahrer dann endlich da sind, vergisst man alles: das Aufstehen zu herrgottsfrüher Stunde, den Sonnenbrand, die steife Hüfte vom Sitzen auf der Kühltasche. Für diesen flüchtigen Augenblick, in dem die Elite des Radsports an einem vorbeizieht, fühlt man sich selbst wie ein Teil des Rennens – zumindest moralisch, wenn schon nicht physisch.
Schöne Erinnerung
Natürlich könnte man das Ganze auch bequem im Fernsehen verfolgen. Mit Zeitlupe, Kommentator und einer Tasse Kaffee in der Hand. Aber wer will schon Bequemlichkeit, wenn er stattdessen mit Hunderten am Rand einer französischen Landstrasse dem Spektakel entgegenfiebern kann und anschliessend, wie in einer eigentümlichen Prozession, am Volksmarsch zufriedener Fans retour zum eigenen Auto teilnehmen kann.
Die Tour de France lehrt uns: Nicht das Vorüberrasen zählt. Sondern das Davor. Und das Danach. Dazwischen liegt ein kurzer, herrlich irrationaler Moment, der das Herz höherschlagen lässt – und an den wir uns immer wieder gerne erinnern werden. Oder, um es kurz zu sagen: Wir warten stundenlang auf Sekunden – und genau diese Sekunden haben es in sich. (Raiffeisen/mc)