Sprachen als Sauerstoff fürs Gehirn

PD Dr. Michiel de Vaan untersucht die Entwicklung verschiedener indoeuropäischer Sprachen. (Foto: Florian Moritz)

Basel – Wie entsteht eine Sprache? Wie entwickelt sie sich? Und welche Verwandtschaften bestehen zwischen Sprachen? Der Linguist PD Dr. Michiel de Vaan geht diesen Fragen nach und gibt sein Wissen und seine Begeisterung als Dozent für Historisch-vergleichende Sprachwissenschaft an der Universität Basel weiter.

Schweizerdeutsch versteht der Niederländer problemlos. Davon, es zu sprechen, sieht er hingegen ab. «Ich bin zu spät in die Schweiz gekommen, um mir ein glaubhaftes Schweizerdeutsch zu erarbeiten», schreibt der Sprachwissenschaftler auf seiner Webseite. Spricht man ihn im Lokaldialekt an, antwortet er in einem «kontinentalwestgermanischen Kontinuum, das in etwa von Leiden bis Wien reicht», verrät er weiter. Er könnte wahlweise auch auf Albanisch, Englisch, Französisch, Italienisch, Litauisch, Russisch oder Spanisch Auskunft geben. Insgesamt neun Sprachen spricht Michiel de Vaan, hinzu kommen Latein und Altgriechisch. «Ich habe einen sehr spielerischen Zugang zu Sprache», sagt er von sich. Verschiedene Sprachen zu sprechen bedeutet für ihn Abwechslung, «wie wenn ich ein anderes Hemd anziehe».

Der 49-Jährige ist in der niederländischen Provinz Limburg aufgewachsen, 2014 zog er mit seiner Familie in die Schweiz. Seit August 2021 hat er die Universitätsdozentur für Historisch-vergleichende Sprachwissenschaft an der Universität Basel inne.

Ihn fasziniert, wie Sprache funktioniert und sich über die Zeit entwickelt. Dass jede Sprache ihre Eigenheiten hat und zugleich Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Sprachen bestehen, wurde ihm schon früh bewusst. Er ist im Umfeld einer sogenannten Diglossie von Niederländisch und Limburgisch aufgewachsen, vergleichbar mit der Situation in der Deutschschweiz mit dem Hochdeutschen und den Dialekten. «Das bedeutet ein ständiges Umschalten im Kopf», beschreibt er. In den Ferien motivierten ihn seine Eltern dazu, hinzuhören, wie die Leute sprechen und welche Ausdrücke sie benutzen.

Der Wortschatz als Schlüssel zur Geschichte
In seinem Fachgebiet, der Historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, befasst sich Michiel de Vaan mit der Entwicklung der indoeuropäischen Sprachen. Daraus entwickelten sich die meisten Sprachen im Gebiet zwischen Indien und dem Atlantik. Auch jene, die der Forscher in seinem Repertoire hat, zählen dazu.

Die Historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft betrachtet zum einen, wie sich eine Sprache über die Zeit verändert hat, zum anderen vergleicht sie verschiedene nebeneinander existierende Sprachen miteinander. «Wenn wir zum Beispiel den Wortschatz der Sprachen zu einem bestimmten Zeitpunkt untersuchen, lässt das Rückschlüsse auf den Austausch zu, den die Völker untereinander hatten», erklärt der Sprachexperte.

Den sogenannten Lehnwortschatz, also Begriffe, die von einer Sprache in eine andere übernommen werden, macht sich Michiel de Vaan in seinem aktuellen Forschungsprojekt «The Albanian Language in Antiquity» zunutze, das vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt wird. Darin widmet er sich der albanischen Sprache und ihrer Entwicklung. Die ältesten überlieferten Texte stammen aus dem 16. Jahrhundert. Um frühere Stadien der Sprache zu eruieren, hilft der Lehnwortschatz. «Im Albanischen findet man Wörter aus dem Griechischen, Lateinischen, Slawischen und Türkischen. Deren Geschichte kann man weiter zurückverfolgen als das Albanische selbst», so der Wissenschaftler. Dadurch kann die indirekte Rekonstruktion einer Sprache – in diesem Fall des Ur-Albanischen – gelingen. «Die Leute sind interessiert an ihrer Geschichte. Das schliesst die Sprache mit ein», beobachtet der Forscher.

Erkenntnisse aus der Forschung für den Alltag nutzen
Sprache verändert sich laufend. Je mobiler die Menschen sind und je mehr sie mit anderen Sprachen in Berührung kommen, desto schneller. Gesellschaftliche Faktoren spielen ebenfalls eine Rolle. Umso mehr Menschen einen bestimmten Dialekt sprechen, umso stärker breitet er sich aus und verdrängt andere. Auch der Wortschatz verändert sich ständig: Hochdeutsche Begriffe kommen anstelle von Dialektwörtern zum Einsatz und verdrängen sie möglicherweise allmählich, Bezeichnungen für neue Erfindungen oder Phänomene setzen sich durch, Jugendliche verwenden bekannte Wörter anders oder kreieren neue und grenzen sich so gegenüber älteren Generationen ab.

«Solche Feinheiten und was dahintersteht, interessieren mich», sagt Michiel de Vaan. Ohne diese Forschung zur Sprachentwicklung würde man einen Teil der eigenen Geschichte abschaffen, ist er überzeugt. Und für den Alltagsgebrauch nützliche Erkenntnisse gingen verloren: «Wenn wir besser verstehen, wie Sprache funktioniert, können wir das in verschiedenen Bereichen einsetzen, beispielsweise für die Entwicklung von Übersetzungshilfen oder von Sprachprogrammen für Menschen, die schlecht hören.»

Nicht zuletzt komme dieser Wissenschaft auch eine Wächterfunktion zu. «Sprache und ihre Geschichte werden mitunter politisch eingesetzt, etwa um eine bestimmte Wählerschaft anzusprechen. Wenn man den Dingen nicht mehr auf den Grund geht und ihren Wahrheitsgehalt nicht mehr überprüft, kann jeder etwas behaupten, das ihm dient, und damit beispielsweise das Geschichtsverständnis beeinflussen», gibt de Vaan zu bedenken.

Logisches Denken dient dem Sprachverständnis
Um die Freude an Historisch-vergleichender Sprachwissenschaft auch bei jüngeren Menschen zu wecken, hat Michiel de Vaan in den Niederlanden die Linguistik-Olympiade ins Leben gerufen. Im März 2022 fand sie erstmals auch in der Schweiz statt. Die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten sollen bei diesem Wettbewerb systematisch über Sprache nachdenken und zum Beispiel Verben in einer Sprache konjugieren, die sie gar nicht beherrschen. Dazu muss man kein Sprachgenie sein. «Es braucht vor allem analytisches Denkvermögen. Das haben auch Schülerinnen und Schüler, die in Physik oder Mathe gut sind», so der Wissenschaftler.

Durch die bewusste Auseinandersetzung mit Sprache erkennt man ihre Systematik. Dieses Vorwissen hilft beim Erwerben neuer Sprachen. «Bei mir persönlich läuft vieles übers Gehör», sagt Michiel de Vaan. Sprachenlernen bezeichnet er als «Sauerstoff fürs Gehirn». Eine weitere will er dennoch nicht in Angriff nehmen. «Ich würde sie nicht mehr auf ein Niveau bringen, auf dem ich sie wirklich gut kann, bevor ich sie wieder vergesse. Last in, first out.» Obwohl Türkisch für seine Albanisch-Forschung durchaus nützlich wäre… (Universtät Basel/mc/ps)

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