Loomis Sayles: Öl vor einer holprigen Wegstrecke: Kurzfristige Schmerzen, langfristiges Potenzial

Ryan McGrail

Ryan McGrail, Senior Credit Research Analyst bei Loomis Sayles. (Foto: zvg)

Wer die Energiemärkte in diesem Jahr beobachtet hat, weiss: die Entwicklung des Ölpreises war 2025 alles andere als langweilig. Nachdem sich der Preis für West Texas Intermediate (WTI) über weite Strecken des Jahres stabil über 60 US-Dollar pro Barrel hielt, fiel er jüngst unter diese psychologisch wichtige Marke. Zwar stützten neue Sanktionen gegen Russland die Preise und hievten WTI wieder über 60 US-Dollar, doch der Rückgang löste erneut Diskussionen unter Analysten, Investoren und Konsumenten aus: Wie geht es weiter? Hier werden die beteiligten Faktoren aufgeschlüsselt und untersucht, warum kurzfristige Einbussen beim Ölpreis langfristig zu Gewinnen führen könnten.

Von Ryan McGrail, Senior Credit Research Analyst bei Loomis Sayles

OPEC+ Produktion und Marktdynamik
Als OPEC+ im April ankündigte, freiwillige Produktionskürzungen aufzuheben, rechneten viele Marktbeobachter mit einem Preisrückgang: Rohöl könnte, so der Konsens, in den Sommermonaten in die Spanne von 50 US-Dollar fallen und in der zweiten Jahreshälfte 2025 gar zwischen 40 und 50 US-Dollar notieren.

Stattdessen hielten geopolitische Spannungen, eine robuste Nachfrage und niedrige Lagerbestände in den OECD-Ländern die Preise über 60 US-Dollar. Inzwischen hat sich der Trend jedoch gedreht: Die Nachfrage nach OPEC+-Öl lässt nach, das Produktionsplus drückt auf die Exporte. Der Markt ist in eine „Contango“-Struktur übergegangen – die Terminpreise liegen also über den Kassapreisen. Dies deutet auf eine erwartete Überversorgung in den kommenden 12 bis 18 Monaten hin.

Trotz des gedämpften Ausblicks sehen wir mehrschichtige Chancen. Zwar dürften die Preise kurzfristig in den Bereich um 50 US-Dollar fallen und bis Anfang 2026 auf diesem Niveau verharren. Ab dem nächsten Jahr erwarten wir jedoch eine allmähliche Erholung – im Gegensatz zu jenen, die von einem anhaltenden Abschwung ausgehen.

Lagerbestände steigen weniger stark als prognostiziert
Die Internationale Energieagentur (IEA) rechnet damit, dass das erhöhte OPEC+-Angebot im ersten Halbjahr 2026 zu einem Überhang von 5 Millionen Barrel pro Tag führen wird. Würden 20 % dieses Überschusses in den USA landen, entspräche dies einem Aufbau der US-Lagerbestände um rund 180 Millionen Barrel – dem grössten jemals verzeichneten Anstieg. In diesem Szenario könnten die Ölpreise auf etwa 40 US-Dollar sinken.

Bislang ist diese Entwicklung jedoch ausgeblieben. Die US-Lagerbestände liegen weiterhin nahe dem Mehrjahrestief, und auch die OECD-Bestände sind im Jahresvergleich stabil. Ein grosser Teil des zusätzlichen Angebots scheint stattdessen in China zu landen: Seit April sind die seeseitigen Exporte dorthin auf geschätzte 1,65 Millionen Barrel pro Tag gestiegen. Obwohl OPEC dies als Zeichen robuster Nachfrage interpretiert, fliesst ein beträchtlicher Teil dieses Öls in strategische Reserven – und nicht in den laufenden Verbrauch.

US-Produktion und Marktstimmung
Die US-Ölproduktion blieb im Verlauf des Jahres weitgehend stabil, mit einem Plus von lediglich 345 000 Barrel pro Tag seit Ende 2023. Schieferölproduzenten konzentrieren sich zunehmend auf freien Cashflow statt auf Produktionswachstum, da viele ihre besten Förderstandorte bereits ausgeschöpft haben. Die über weite Teile des Jahres stabilen Preise hielten die Bohraktivität flach, doch die Zahl der aktiven Fracking-Anlagen ist seit Jahresbeginn um 13 % gesunken. Mit weiter fallenden Preisen dürfte die Produktion tendenziell nachgeben, da Unternehmen vermeiden wollen, ihren Cashflow zu übersteigen.

Auch die Marktstimmung gegenüber Öl ist ausgesprochen schwach: Die Netto-Long-Positionen auf WTI befinden sich auf einem Rekordtief – Long-Positionen sind seit Jahresbeginn um 30 % gefallen, während Short-Positionen um 28 % gestiegen sind. Angesichts dieser pessimistischen Positionierung überrascht es, dass der Ölpreis nicht noch tiefer liegt. Historisch deutet ein so niedriges Long-Exposure oft auf eine Bodenbildung hin, doch kurzfristig könnten die Preise noch weiter sinken – wenn auch in gemächlichem Tempo, da das Sentiment bereits stark negativ ist.

OPEC+ Reservekapazität wohl überschätzt
Offiziell liegt die OPEC-Reservekapazität bei 4,4 Millionen Barrel pro Tag. In der Praxis können jedoch viele Mitgliedstaaten ihre gemeldete Kapazität gar nicht ausschöpfen. Selbst Saudi-Arabien hat nie über längere Zeit mehr als 10,5 Millionen Barrel pro Tag gefördert – trotz einer offiziellen Kapazität von 11,84 Millionen Barrel. Die tatsächliche Reservekapazität dürfte also deutlich geringer ausfallen. Wir schätzen sie auf rund 1,9 Millionen Barrel pro Tag. In einem Markt, der rund 105 Millionen Barrel pro Tag produziert, ist das ein sehr geringer Puffer. Ein solches Ungleichgewicht könnte die Preise mittel- bis langfristig stützen, da es die Anfälligkeit des Marktes bei Störungen erhöht.

Öl auf See ist kein echtes Überangebot
Seit Beginn des Ukraine-Kriegs hat die Menge an Öl, die sich auf See befindet, stark zugenommen – inzwischen auf ein Rekordniveau von rund 1,3 Milliarden Barrel. Der Hauptgrund: längere Transportwege, insbesondere von Russland nach China. Manche sehen darin ein Zeichen von Überversorgung und potenziell fallenden Preisen. Aus unserer Sicht spiegelt dies jedoch eher Sanktionsfolgen und logistische Umwege wider – kein tatsächliches Marktüberangebot. Diese Unterscheidung ist entscheidend, wenn man künftige Preisrisiken einschätzen will.

Russische Sanktionen verdeutlichen geopolitische Risiken
Bis vor Kurzem hatte Russland weitgehend Sanktionen entgehen können, die seine Ölexporte – rund 7,3 Millionen Barrel pro Tag – beschränkt hätten. Am 22. Oktober verhängten die USA jedoch neue Sanktionen gegen die Ölkonzerne Rosneft und Lukoil, nachdem diplomatische Gespräche gescheitert waren. Laut Rystad Energy dürften die Auswirkungen auf 500 000 bis 600 000 Barrel pro Tag begrenzt bleiben, sodass Russland seinen Marktzugang weitgehend aufrechterhalten kann. Das Ereignis unterstreicht jedoch die geopolitische Verwundbarkeit des Ölmarkts und schafft zusätzlichen, schwer kalkulierbaren Aufwärtsspielraum für die Preise.

Geduld bleibt gefragt
Kurzfristig ist mit weiterer Volatilität und Schwäche zu rechnen – zumal geopolitische Risiken anhalten. Ab der zweiten Jahreshälfte 2026 dürfte sich der Markt jedoch schrittweise erholen: Das OPEC-Überangebot dürfte abgebaut werden, während das Wachstum ausserhalb der OPEC stagniert und die Schieferölproduktion in den USA nachlässt. Für Konsumenten, Investoren und Marktbeobachter gilt daher: Geduld bewahren und die Fundamentaldaten im Auge behalten. (mc/pg)

Exit mobile version