Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Nie richtig

Martin Neff

Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – Über einen ehemaligen Schulkamerad, der mit mir die Matura gemacht hatte und den ich danach vollständig aus den Augen verloren hatte, hörte ich letztes Jahr Unschönes. Er sei „abgestürzt“, berichteten mir zwei, die mit uns in die gleiche Schulklasse gegangen waren. Und zwar so richtig. Er lebe schon länger im Ausland, habe nie richtig gearbeitet und sei seit geraumer Zeit obdachlos. Noch viel schlimmer sei, dass die wenige Sozialhilfe, die ihm der Staat überweise, zu einem grossen Teil für Zigaretten drauf gehe. Ich war schon etwas entsetzt, zumal er der bessere Schüler von uns beiden war und ich eigentlich davon ausgegangen war, dass er sicher mit beiden Füssen im Leben stehen würde, es zu etwas gebracht haben dürfte, wie man so schön sagt. Ich habe mich dann mal im Netz schlau gemacht und wurde tatsächlich fündig. Sein Profil auf „Social Media zeichnet ein ganz anderes Bild, als mir berichtet wurde. Er postet aktiv alles Mögliche, vor allem aber outet er sich dort als sogenannter Coronaleugner, fast schon militant. Das sei alles Lüge und die Massnahmen der Regierungen seien völlig übertrieben. Anstatt Menschen zu bevormunden und ihnen ihre Freiheiten zu nehmen, sollen sie erst mal dafür sorgen, dass auch jeder ein Dach über dem Kopf habe. Ihm kann es der Staat nicht recht machen, mal macht er zu viel, mal zu wenig.

Hier handelt es sich zweifellos um ein Extrem, aber vielleicht haben Sie ja auch schon mal folgenden Satz gehört. „Nie kann ich es Dir recht machen!“ Was nach Verzweiflung klingt, ist nicht selten auch der Anfang vom Ende einer Beziehung. Leidig bei letzterer über die Schuldfrage zu diskutieren, aber wir können es ja mal unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachten. Wer das sagt, liefert nicht, was der andere möchte, obwohl er sich allem Anschein nach darum bemüht. Er ist sozusagen Anbieter, welcher der Nachfrage nicht gerecht wird. Exakt dies ist aktuell die Rolle des Staates. Im neoliberalen Wirtschaftsdenken soll sich der Staat am besten möglichst überall raushalten. Denn das beste Ergebnis – so die Überzeugung – liefert der Markt, mittels freiem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage. Der Staat ist demnach nicht annähernd so effizient in der Steuerung von Angebot und Nachfrage wie die berühmte unsichtbare Hand. Schön und gut, nur was, wenn die Marktkräfte ausgehebelt werden? Dann ist die Logik eindeutig. Jetzt muss der Staat ran. Doch wer sagt, wann, wo und wie?

Hilf mir, lass mich!
Die Antwort lautet: Jeder. Jeder weiss es besser und jeder hat eine Meinung. Doch leider hat auch jeder eine andere Vorstellung, was der Staat (nun) tun oder lassen sollte. Dass hier kein Konsens erwartet werden kann, liegt in der Natur der Dinge, denn bekanntlich gilt ja auch: jeder ist sich selbst der Nächste und das erst recht in Krisensituationen wie der jetzigen. Doch ein gewisser Konsens herrscht trotzdem. Würde es nach meinem ehemaligen Schulkameraden gehen, müsste ihm der Staat mehr Geld (für Zigaretten?) bereitstellen. Armut und Obdachlosigkeit in einer Wohlstandsgesellschaft hat der Staat also vehement zu bekämpfen. Die „Schuldfrage“ stellt sich in diesem Postulat nicht. Egal wieso er dorthin geraten ist, der Staat soll ihm gefälligst unter die Arme greifen. Ihm aber vorzuschreiben, im öffentlichen Raum eine Maske zu tragen, geht zu weit. Da verweigert er sich. Der Staat soll gefälligst bloss nicht seine Freiheit einschränken. Freiheitsliebe aber Abhängigkeit? Da kann doch was nicht stimmen. Doch genau in Richtung dieses Paradoxons steuern wir nun.

Föderalismus fördert Wildwuchs
Das gilt auch für unser Land. Das beherzte Eingreifen des Bundes wurde zu Beginn der Coronakrise weithin begrüsst. Ganz zu Anfang wurde dem Bund gar vorgeworfen, zu zögerlich gehandelt zu haben. Kurzarbeitsentschädigungen und COVID-19-Kredite gingen weg wie warme Semmel und die Interessenvertretungen gaben sich in Bern die Klinke in die Hand, um den Bund davon zu überzeugen, ihr Klientel zu unterstützen. Mit dem verordneten Teillockdown konnte man sich zu Beginn noch abfinden, doch keimte bald Widerstand. Die Haltung schwappte um, stilles Einverständnis wich zusehends lauter werdender Kritik. Und sukzessive stand der Bund immer mehr allein dar. Parlament, Kantone und viele Bürger sowieso waren es müde, sich vom Bund noch mehr vorschreiben zu lassen. Und so landeten wir da, wo wir heute stehen. Der Bund hat dem Prinzip der Subsidiarität folgend den Kantonen den Schaltknopf übergeben, mit dem viele am Anfang nichts anzufangen wussten. Bern blieb letztlich noch die Rolle des Zahlmeisters, wenn es Härten auszubügeln gab. Dafür herrscht nun Wildwuchs. Das ist kein rein schweizerisches Phänomen. Auch im Ausland wird nun regional differenzierter agiert, den Gegebenheiten vor Ort stärker Rechnung getragen. In immer weniger Staaten werden nationale Gebote oder Verbote gesprochen, dafür aber lokale oder regionale. Das ist aber weniger einer neuen Vernunft verschuldet, sondern vielmehr der Forderung, bloss keinen nationalen Lockdown mehr zu verhängen. Gegen einen solchen würde sich gerade hierzulande fast jeder stemmen. Ich arbeite im Kanton Zürich und wohne im Kanton Zug. Währenddessen in Zürich in den Geschäften Maskenpflicht gilt, ist dies in den Nachbarkantonen nicht der Fall. Es gibt nun tatsächlich nicht wenige „Zürcher“ die in Pfäffikon, Spreitenbach oder sonst wo ausserhalb des Kantons Zürich einkaufen, weil sie am Shoppen mit Maske keinen Spass haben. So argumentierten die Befragten „Grenzgänger“. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Sinn der Zürcher Übungsanlage ist und genauso wenig, dass das im Aargau oder Kanton Schwyz begrüsst wird, ausser von den dortigen Einkaufszentren, die von diesen Ausweicheffekten natürlich profitieren. Die gewünschte regionale Differenzierung der Anticoronamassnahmen wird so umgangen.

Krise spaltet die Nation
Ohnehin scheinen die Kantone ungern Massnahmen zu ergreifen, welche ihre Bürger erzürnen. Das haben sie bis anhin – ich vermute gar nicht so ungern – lieber dem Bund überlassen. Der hat aber nach Ablauf der ausserordentlichen Lage Mitte Juni klar gemacht, dass es nun an den Kantonen sei, allfällig notwendige Massnahmen zu ergreifen. Das erklärt auch den Wildwuchs, der seitdem herrscht und sich nicht allein mit Fall- oder anderen Zahlen begründen lässt. Und was auch auffällt: in vielen Kantonen ist immer irgendwie noch von BAG (Bundesamt für Gesundheit) die Rede, wenn Auflagen kommuniziert werden. Es scheint, als wollten einige Kantone partout die Verantwortung für Einschränkungen dem Bund unterschieben. Auch die wenigen Anweisungen des Bundes, welche vornehmlich die Quarantäne betreffen, werden eher halbherzig vertreten und klar adressiert. Als am Montag publik wurde, dass sich ein Vater in Wädenswil weigere, seine siebenjährige Tochter zehn Tage in Quarantäne zu schicken, hiess es aus der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich: „Die Anweisungen zur Quarantäne sind vom BAG. Der Kanton Zürich vollzieht diese Anordnungen“. Es fehlt lediglich noch das Wörtchen „nur“ am Schluss dieses Statements. Wenn es darum geht finanzielle Härten auszubügeln, ist hingegen der Bund gefragter denn je. Da kennen die Ansprüche keine Grenzen. Wer aber zahlt, befiehlt noch lange nicht. (Raiffeisen/mc/ps)

Exit mobile version