Mehrmals betonte Nationalbankpräsident Martin Schlegel bei der jüngsten geldpolitischen Lagebeurteilung, ein Leitzins von null sei nicht negativ. Kritiker hielten ihm allerdings entgegen, dass man faktisch bereits im negativen Bereich angelangt sei. In der Tat liegt der Strafzins für Sichtguthaben der Banken bei der Schweizerischen Nationalbank oberhalb gewisser Limiten neu bei –0,25%. Er dient zur Steuerung des Geldmarktes und ist auch der Grund dafür, dass der Gelmarktsatz SARON einige Basispunkte unter der Nulllinie notiert, obwohl der Leitzins bei null liegt.
von Fredy Hasenmaile, Chefökonom Raiffeisen Schweiz
Die Vehemenz, mit der Schlegel versucht, die mathematisch korrekte Lesart «Null ist nicht negativ» zu verbreiten, zeigt, wie gross das Unverständnis in der Bevölkerung darüber ist, dass man auf dem Sparkonto keinen Zins mehr bekommt. Viele Bankkunden fragen sich zu Recht, ob man in diesem Fall überhaupt noch von einem «Sparkonto» sprechen darf.
Was soll der Seich?
Während der letzten Negativzinsphase wurden Sparer, die mehr als ein paar Hunderttausend Franken auf dem Konto hatten, von stolzen Besitzern plötzlich zu getriebenen Gebührenzahlern, die Mittel und Wege suchten, um der als unanständig empfundenen Gebühr zu entgehen. Wer viel besass, verlor automatisch – wie bei einem Monopoly-Spiel mit rückwärts laufenden Regeln. Diesem weitverbreiteten Unverständnis konnte sich der Geldtheoretiker Schlegel nicht entziehen. Bei der jüngsten Sitzung der Schweizerischen Nationalbank schreckte er deshalb davor zurück, den Leitzinssatz unter die Nullmarke zu senken. Nur am Rande sei erwähnt, dass für den Sparer eigentlich der Realzins – also der Nominalzins abzüglich Inflation – für die Sparrendite ausschlaggebend ist. Dieser lag während des jüngsten Inflationsschubs deutlich im Minus und ist erst seit Kurzem wieder in den positiven Bereich zurückgekehrt. Für die Sparer hat sich die Situation jüngst demnach verbessert. Da für sie jedoch der Nominalzins deutlich sichtbarer ist, entzündet sich die Kritik fast nur an den Nominalzinsen.
Ökonomisch ist die Nulllinie eine Linie wie jede andere
Die Ökonomie ist hier entspannter und die Null beim Zins einfach eine von vielen Linien. Der Zins ist der Preis für Kapital. Angebot und Nachfrage bestimmen auf dem Geld- und Kapitalmarkt, bei welchem Zinssatz ein Gleichgewicht herrscht. Ist das Angebot an Kapital sehr viel grösser als die Nachfrage, können sich auch negative Preise einstellen. So geschehen beispielsweise während der Corona-Krise, als der Einbruch der Nachfrage nach Öl zu einem massiven Überangebot führte, da die Ölproduktion nicht genügend rasch gedrosselt werden konnte. Einfach wegschütten konnten die Förderer das Öl nicht, daher bezahlten sie Abnehmer und waren froh, denn die Lagerung von Öl ist teuer und begrenzt. Ähnlich verhält es sich mit Geld: Auch dessen Lagerung ist nicht gratis, da erhöhte Sicherheitsstufen zu beachten und Regulierungsvorgaben einzuhalten sind. Auch auf dem Strommarkt treten immer mal wieder negative Preise auf, wenn Solar- und Windkraftwerke im Sommer zu viel Strom produzieren. Negative Preise sind zwar selten, aber ökonomisch keine Anomalie. Als Mitte der 2010erJahre mehrere Zentralbanken Negativzinsen einführten, geriet das Finanzmarktsystem dadurch zur Überraschung vieler nicht aus dem Gleichgewicht. Vielmehr deuten Negativzinsen darauf hin, dass in einer Volkwirtschaft zu viel gespart und zu wenig investiert wird.
Des einen Leid, des anderen Freud
Unternehmen sind bei der Frage nach Negativzinsen ebenfalls entspannter. Für Firmen bedeuten Negativzinsen äusserst günstige Refinanzierungsbedingungen. Sie haben in der Regel auch nicht übermässig Cash herumliegen, sondern investieren das Geld oder führen es an die Aktionäre zurück. Bei unserer jüngsten Umfrage im Mai nach den Auswirkungen von Negativzinsen bei den Schweizer KMU rechneten nur 12% mit Nachteilen, 33% erwarteten positive Effekte und die meisten weder noch. In einer Wirtschaft steht eben jedem Sparer ein Kreditnehmer gegenüber. Des einen Leid ist des anderen Freud.
Was bezwecken Negativzinsen?
Negativzinsen sollen Investitionen anregen, den Franken schwächen und der Gefahr einer Deflation entgegenwirken. Die negative Verzinsung soll Kapital abschrecken oder besser noch umlenken – etwa in risikoreichere, aber auch produktivere Anlagen. Gern auch ins Ausland, was die Aufwertung des Schweizer Frankens bremst.
Wird es Negativzinsen geben?
Allzu viel Einfluss wird auch Martin Schlegel nicht haben, Negativzinsen für die Schweiz zu verhindern. Die Möglichkeit von Zentralbanken zur Feinsteuerung der Wirtschaft wird in der Tendenz überschätzt. Die Schweiz ist nur ein kleiner Fels im zuweilen stürmischen Ozean der Weltwirtschaft. Ob es zu einem Comeback der Negativzinsen kommt, hängt daher an einem seidenen Faden. Die Chancen, dass wir an Negativzinsen vorbeischrammen, sind noch immer intakt, und deswegen bleibt die Null unser Basisszenario. Die gewaltige gegenwärtige Unsicherheit könnte sich aber auch in einer stärkeren Wirtschaftsabschwächung niederschlagen, was zusammen mit einer Umlenkung chinesischer Güter letztlich auch die Inflation im Negativbereich verharren liesse. Dann wird Martin Schlegel den Rubikon überschreiten und Negativzinsen einführen. Falls es so weit kommt, sollten wir uns nicht aufregen, sondern eher fragen, welche Chancen sich daraus ergeben. Vielleicht sollten wir endlich die heilige Kuh des Sparens schlachten und uns vom reinen Sparer zum aktiven Investor und Anleger weiterentwickeln. Das bringt langfristig höhere Renditen und wir würden dem Nationalbankpräsidenten damit erst noch helfen, seinen wichtigen Auftrag zu erfüllen. (Raiffeisen/mc)