Cancel Culture als Zeichen des nahenden Endes der Pandemie

(Bild: Adobe Stock, 74908730)

Wer wissen will, wann das Ende der Pandemie eingeläutet wird, findet in den medialen Schlagzeilen verlässliche Hinweise: Bald. Plötzlich machen wieder andere Themen Schlagzeilen: KünstlerInnen, die mit Erfolg auf ihre prekäre Situation aufmerksam machen, angesichts der existenzbedrohenden Krisen absurd anmutende, mit Furor geführten Erst-Welt-Debatten um gendergerechte Sprache und der bemühte Versuch, die aktuelle und vergangene Geschichte von möglichst allen und allem «Unkorrekten» zu befreien (Cancel Culture).

Von Helmuth Fuchs

Das Coronavirus wird uns erhalten bleiben, da kaum ein europäisches Land, im Gegensatz zum Beispiel zu weltweit einigen wenigen Ländern wie Neuseeland oder Australien, ernsthaft den Versuch unternommen hat, das Virus gänzlich auszurotten. In einer globalisierten Welt heisst das auch, dass Länder, welche das Virus innerhalb ihrer eigenen Grenzen besiegten, damit rechnen müssen, dass es von ausserhalb wieder eingeführt wird. Ausser, man hält ein rigoroses Regime mit Gesundheitskontrollen an der Grenze aufrecht (Impfpässe, Testen, Quarantäne) und sorgt für Herdenimmunität im Inland mittels Durchimpfen der Bevölkerung.

Es geht also nur darum, das Virus möglichst weit einzudämmen, damit das Gesundheitswesen nicht übermässig belastet und die Opferanzahl möglichst gering gehalten wird. Das mag für diejenigen, welche sich #ZeroCovid verschrieben haben, zynisch klingen, aber der Rest der Gesellschaft hat sich damit abgefunden, dass wir eine neue Krankheit unter uns haben, die in Ausnahmefällen auch bei Menschen unter 80 Jahren zu schweren Verläufen und zum Tod führen kann. Dank Impfung und neu angekündigten Medikamenten können heute schon die ältesten Personen sehr gut geschützt werden, in wenigen Monaten gilt dies für die gesamte Bevölkerung.

Sofortige Empörung und radikale Gegenpositionen auf dem Weg zur neuen Normalität
Erste Anzeichen einer wiederkehrenden Normalität sind zunehmende Proteste gegen die teilweise unnützen und willkürlichen politischen Massnahmen zur Virusbekämpfung, nur leicht steigende, stabile, oder teilweise leicht sinkende Messgrössen (Hospitalisationen, Todesfälle, Corona-PatientInnen auf Intensivstationen, Positiv Getestete) und Schlagzeilen zu Themen, die in existenzbedrohenden Krisen keinen Platz hätten.

Über 50 bekannte deutsche SchauspielerInnen haben in Kurzvideos die Massnahmen ironisch überspitzt inszeniert und so ihrer Kritik an der Politik Ausdruck verliehen. Auf den Sozialen Medien, unter #allesdichtmachen, löste die Aktion nebst viel Zustimmung auch einen Shitstorm aus.

Vor allem Ärzte und Personal auf Intensivpflegestationen, wie zum Beispiel Doc Caro (Carola Holzner), die selbst ernannte «Stimme des Gesundheitssystems» fühlten sich zu wenig beachtet, obschon die Kritik der SchauspielerInnen alleine den politischen Massnahmen galt und mit der Leistung des Pflegepersonals nichts zu tun hatte.

Doc Caro ultimativ: «In der aktuellen Situation haben zynische Diskussionen, Sarkasmus und Ironie meiner Meinung nach nichts verloren. Sie haben eine Grenze überschritten und zwar eine Schmerzgrenze.»

https://youtu.be/dGnRFPfmQBM

Die Reaktion von Doc Caro zeigt exemplarisch, wie unmöglich es scheinbar geworden ist, berechtigte Anliegen anderer unkommentiert stehen zu lassen. Sofort müssen die eigenen Probleme, die von den anderen weder angezweifelt, noch etwas mit dem Anliegen der anderen zu tun haben, ins Zentrum gestellt werden. Im gleichen Zug müssen die anderen noch als unsympathische Ignoranten hingestellt werden, deren Anliegen irrelevant sind angesichts der Bedeutung der eigenen Leistung und der eigenen Anliegen.

Zumindest haben sich in Deutschland dann einige PolitikerInnen wie Armin Laschet („In Krisensituationen ist auch die Minderheitsmeinung gerade von Künstlern und Intellektuellen wichtig“) oder Sarah Wagenknecht für die SchauspielerInnen und deren Anliegen eingesetzt.

Elitäre Hahnenkämpfe um Ausgrenzung und gendergerechte Rechtschreibung
Wo früher ein lustvolles Streiten um Meinungshoheit und bessere Argumente mit geschliffener Sprache, intellektuellen Finten, rhetorischen Sticheleien, eingebettet in den aktuellen und historischen Kontext dem Publikum durchaus Unterhaltung und Erkenntnis bringen konnte, wie zum Beispiel der «Scheibenwischer» von Dieter Hildebrandt, herrscht aktuell zunehmend Intoleranz, Ausgrenzung, Anprangerung. Und dies weder lustvoll inszeniert noch intellektuell stimulierend geführt, sondern meist sauertöpfisch und moralisierend, im Blick nur noch die eigene vermeintliche Wichtigkeit und die höchstmögliche Empörung, die in den Sozialen Medien Klicks und Aufmerksamkeit garantiert.

In einem solchen Umfeld gedeiht die «Cancel Culture» besonders gut. Alles, was nicht der eigenen, natürlich einzig ethisch korrekten Position entspricht, gehört ausradiert, stumm geschaltet. Das trifft dann ironischerweise oft nicht diejenigen, die sich dank ihrer Bekanntheit gut inszenieren können (die profitieren medial sogar noch von der Zuspitzung auf duale und unvereinbare Positionen), sondern diejenigen, die sich nicht (mehr) wehren können und denen jegliche Möglichkeit genommen wird, ihrer Stimme Gehör zu verschaffen. Meist wird auch jeglicher Kontext ausgeblendet und nur auf eine Aussage, ein unliebsamer Aspekt fokussiert, um die Person als Ganzes, ihre Leistung und Geschichte zu relativieren oder gleich ganz auszuradieren. So entwickeln sich kulturelle Hahnenkämpfe einiger Privilegierten zu vermeintlichen «Mainstream»-Bewegungen, die aber an der Lebensrealität und den Bedürfnissen der grossen Mehrheit der Bevölkerung vorbei gehen.

In diese Entwicklung gehört auch die gendergerechte Rechtschreibung, die momentan zu einem Massaker bei der Lesbarkeit von Texten führt. Ein Kleinstgrüpppchen diktiert die korrekte Verwendung der Sprache in Texten, als sei die Schriftsprache in ihrem Besitz. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung wurde dazu weder befragt noch wird sie in der täglichen Anwendung davon Gebrauch machen. Die unabhängige Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) wendet sich klar gegen die kursierenden Gender-Sternchen, – Bindestriche und Doppelpunkte. „Da hat sich einiges verselbstständigt. Wir haben eine normierte Rechtschreibung, die auch in der Schule gelehrt wird – da ist das nicht vorgesehen.“

Um die jeweils radikalsten Forderungen von noch so kleinen Minderheiten durchzusetzen wird gerne die Solidarität aller eingefordert. Dabei genügt eigentlich die Toleranz der Mehrheit ohne gleich die Übernahme der Minderheitenposition zu fordern, ohne den Solidäritätsbegriff bis zum Überdruss zu strapazieren. Komplexität lässt sich nicht durch vermeintliche moralische Überlegenheit und Denkverbote meistern, sondern durch zähes, lust- und respektvolles Ringen um die besten Lösungen unter Einbezug aller, die am Diskurs teilnehmen möchten.

99.88% der Menschen in der Schweiz haben das Virus überlebt
Die befürchtete und immer wieder heraufbeschworene Explosion der exponentiellen Zahlen zu einer überwältigenden dritten Welle blieb aus. Es ist das Ende einer Pandemie absehbar, die mit Ausnahme der zweiten Welle, in der übermässige viele Menschen über 80 Jahre verstarben (welche mit rigoroserem Testen der Kontaktpersonen weitgehend hätten geschützt werden können) aus gesundheitlicher Sicht für die Bevölkerung sehr glimpflich verlief. Von den über 83’000 Verstorbenen Menschen seit Beginn 2020 sind 10’000 mit und an Corona verstorben (12%), von den 8.7 Millionen BewohnerInnen der Schweiz sind 99.88% seit Beginn der Pandemie nicht mit oder an dem Coronavirus gestorben. Von ca. 1.3 Millionen in Spitälern behandelten Menschen waren weniger als 28’000 CoronapatientInnen.

Das macht den Blick frei auf andere Themen, welche die Bevölkerung in mindestens demselben Mass betreffen werden wie das Virus: Die Umweltprobleme, zu denen im Juni drei Abstimmungen anstehen (Trinkwasser- und Pestizid-Initiative und das CO2-Gesetz), die Rolle des Staates in Bezug zu unseren Freiheiten (COVID-19-Gesetz und Terrorismus-Gesetz) unser Verhältnis zu Europa und unsere Rolle in der Welt (Institutionelles Rahmenabkommen). Alles Themen, die geeignet sind, die in der Pandemie verloren gegangene Gesprächskultur wieder aufzubauen und einzuüben. Ohne den gemeinsamen Willen, diese Probleme miteinander zu lösen, wird es für die Willensnation Schweiz in Zukunft eng und ungemütlich.


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