Die unmögliche Abwägung zwischen Menschenleben und dem wirtschaftlichen Überleben – und wieso sie trotzdem gemacht werden muss

Die unmögliche Abwägung zwischen Menschenleben und dem wirtschaftlichen Überleben – und wieso sie trotzdem gemacht werden muss

Von Helmuth Fuchs

Das Coronavirus dominiert unser Leben unvermindert. In den meisten Ländern müssen die Ärzte zum Glück noch nicht entscheiden, wer den letzten freien Beatmungsplatz bekommt, wie dies in einzelnen Spitälern in Italien, Frankreich oder Spanien der Fall zu sein scheint. Die Politiker jedoch müssen bei jeder ihrer Entscheidung abwägen zwischen dem gesundheitlichen Schaden, den das Virus anrichtet und den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Folgen eines «lock downs».

Man kann versuchen, es sich einfach zu machen, wie dies Donald Trump vormacht (das Virus ignorieren, die gesundheitlichen Folgen herunterspielen um die Wirtschaft möglichst wenig zu schädigen), oder die Idealszenarien von Virologen und Mathematikern umsetzen (umfassendes Testen der gesamten Bevölkerung, Isolation aller Infizierter und Gefährdeten zum Preis des Stillstands des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens). In Trumps Szenarium ist der Wert des einzelnen Lebens beinahe vernachlässigbar, im Szenarium der Wissenschaftler (auf das sich viele Anhänger der Fraktion «jeder Tote ist einer zu viel, wir müssen alles tun, um alle zu retten» berufen) wird jedem Leben ein praktisch unermesslicher Wert zugewiesen.

Trump reduziert den Wert und das Gewicht des einzelnen Bürgers einzig auf seine wirtschaftliche Bedeutung. Mit dem Ziel, die grössten Unternehmen (und Donatoren seines Wahlkampfs) nicht zu schädigen, gefährdet er die physische Gesundheit der gesamten Gesellschaft und nähert sich paradoxerweise dem chinesischen Modell, das er sonst vehement bekämpft. Diejenigen, welche das Virus mit «koste es, was es wolle» bekämpfen möchten, ignorieren, dass sie mit ihrer Haltung die Existenz und die Gesundheit der grossen Mehrheit der Bevölkerung aufs Spiel setzen.

Beide Szenarien führen zu katastrophalen Resultaten und gesellschaftlichen Zerwürfnissen. Die verantwortlichen Politiker müssen irgendwo zwischen den beiden Polen durch die Krise navigieren.

Unvermeidliche Fragen, deren Beantwortung die Strategie zur Bekämpfung des Viruses definieren
Als Gesellschaft müssen wir einen möglichst breiten Konsens finden in fundamentalen Fragen wie

  • Wann überwiegt der Schaden, den wir anrichten, den Wert dessen, was wir zu retten versuchen?
  • Wann verursachen Kontaktsperre und Isolation mehr Tote als das Virus selbst?
  • Wie viele Tote sind wir bereit als «unvermeidlich» zu tolerieren?
  • Ab wann ist ein Wirtschaftssystem, das vorwiegend von KMU und Einzelunternehmen geprägt ist, nachhaltig und unrettbar geschädigt?
  • Wie lange soll eine Regierung mit Notrecht alleine entscheiden, wenn nur ein kleiner Teil der Bevölkerung an Leib und Leben bedroht ist?
  • Wie viele Wiederholungen solcher Ausnahmesituationen sind wir willens zu ertragen, um die vorhandene Infrastruktur des Gesundheitssystems nicht zu überlasten?
  • Welche unterschiedlichen Szenarien (Weiterverbreitung des Viruses verhindern oder nur verlangsamen, «Umkehrisolation») sind möglich, was sind die unterschiedlichen Vor- und Nachteile der Szenarien und wie kann die Bevölkerung darüber mit entscheiden?

Das Versagen von Künstlicher Intelligenz, datenbasierten Entscheidungen und Digitalisierung
In einer Situation, in der die zuvor jahrelang hochgejubelte Welt von «Big Data», «Künstlicher Intelligenz», «selbst lernenden Expertensystemen» etc. den Beweis ihrer Mächtigkeit und Nützlichkeit hätte erbringen können, hört man mehr oder weniger: Nichts. Keine Super-App, welche eingesetzt werden kann, um mit «Gameification»-Ansätzen die Bürger zum Wettbewerb um den «Stay-at-Home-Hero» zu motivieren, keine Webseite, auf welcher die Regierung mit adaptiven und interaktiven Grafiken den aktuellen Stand und die Prognosen der unterschiedlichen Szenarien für alle leicht verständlich aufzeigt, keine Karte, auf welcher die verfügbaren Ressourcen (Intensivpflege-Betten, Beatmungsgeräte, Masken…) ersichtlich sind, nix mit aussagekräftigen und international vergleichbaren Statistiken zu Angesteckten, Erkrankten, Getesteten, Genesenen. Stattdessen manuelles Zusammenbasteln von nicht belastbaren Daten, Übermittlung von Informationen via Faxgeräten. Einzelne Initiativen ja, aber nichts im Ansatz des Startup-Mantras «Wir retten die Welt».

Gerade diese Informationen wären aber fundamental. Zum einen für die Politiker, um möglichst informierte und nachvollziehbare Entscheidungen zu treffen und die Wirksamkeit und Verhältnismässigkeit der Entscheidungen messen zu können, zum anderen für die Bevölkerung um das Vertrauen in die Entscheidungen und Massnahmen nicht zu verlieren und diese mit zu tragen.

Aktuelle Situation
Um die obigen Fragen beantworten zu können, benötigt man zumindest einige Fakten und eine Ahnung davon, wie sich die Zahlen in nächster Zukunft mit den gewählten Massnahmen entwicklen werden.

Hier zunächst einige aktuelle Zahlen (Gesamtbevölkerung der Schweiz mit 8.57 Millionen gerechnet):

  • Getestete Personen (nur nach Abklärung durch einen Arzt zum Test überwiesen): 105’000 (1.2% der Bevölkerung).
  • Positiv getestete Coronavirus-Fälle: 13’142 (13% der Getesteten, 0.14% der Bevölkerung).
  • Patienten an Beatmungsgeräten: 280 (2.1% der der positiv getesteten Coronavirus-Fälle)
  • Todesfälle: 237 (1.8% der positiv getesteten Coronavirus-Fälle, 0.2% der getesteten Personen, 0.002% der Bevölkerung).
  • Genesene Personen: 1’530 (11% der positiv getesteten Personen)
  • Unternehmen mit Kurzarbeit: 51’000
  • Personen in Kurzarbeit: 757’000 (15% der Erwerbstätigen)
  • Verabschiedete Wirtschaftshilfen: 42 Milliarden CHF

(Quellen: BAG, Kickstart)

Um die Opfer des Coronoviruses auch in den grösseren Kontext der jährlichen Toten nach Altersgruppe und in einzelnen Ländern stellen zu können, ist ein Blick auf euromomo hilfreich. Hier werden seit Jahren sämtliche Todesfälle für jedes Land geführt. Man sieht hier die Auswirkungen von überdurchschnittlichen heftigen Grippewellen (2016/2017) und dass zum Beispiel in den meisten Ländern die aktuellen Zahlen von Todesfällen eher unterdurchschnittlich sind im Vergleich zu früheren Jahren (aktuelle Zahlen bis und mit Woche 12, 2020, wobei es in einzelnen Fällen noch Verzögerungen bei der Erfassung geben kann).

Für Europa als Gesamtes sind die Todesfallzahlen unter dem langjährigen Durchschnitt, in der Schweiz und Italien sind die Zahlen steigend, aber noch weit unter denjenigen der Grippewelle von 2016/2017 (in Italien 25’000 Todesopfer alleine durch die Grippe).

Zur Aussicht lassen sich nur begrenzt Aussagen machen, solange unsere Regierung nicht klar sagt, an welchen Szenarien sie sich orientiert und eine belastbarere Datenbasis zu Verfügung stellt (kommt in kleinen Schritten jetzt allmählich). Ausgehend von verschiedenen asiatischen Staaten und dem Verlauf nach Ergreifen der unterschiedlichen Massnahmen kann man vermuten, dass sich die täglichen Fallzahlen bei uns (bei gleich bleibender Anzahl Tests) stabilisieren und in den kommenden Wochen langsam wieder zurück entwickeln, sofern die Spitäler die aufkommenden schweren Fälle behandeln können. Das heisst aber, dass wir weiter eine zunehmende Gesamtzahl an Fällen und Toten haben werden (wichtig ist, die Entwicklung abseits der dramatischen Einzelschicksale und des medialen Trommelfeuers im Auge zu behalten).

Es gibt ein Leben nach der Krise
Entscheidend, wie dieses Leben für die allermeisten von uns aussehen wird, ist die Länge des «lock downs» und die Art und Weise, wie wir diesen Wiedereintritt gestalten. Kehren alle zurück zu ihrer gewohnten Arbeit, oder ist jetzt plötzlich Home Office ein akzeptierter modus operandi? Wie schnell kommen Touristen wieder in unser Land? Wird die Verkehrsinfrastruktur wieder möglichst schnell auf den Vorkrisenmodus hoch gefahren oder nimmt man die Chance wahr, hier auf tieferem Emissionsniveau zu verbleiben und alternative Mobilitäsformen zu fördern? Wie will man die 42 Milliarden Franken an Wirtschaftsunterstützung (und eventuell mehr) finanzieren? Ist das ein günstiger Kredit, der eine Welle von Konkursen einfach in die Zukunft verlegt, oder sieht man hier den Anlass, das Steuersystem fundamental neu zu gestalten?

Vom Wert des Lebens und von einem lebenswerten Leben
Auf komplexe Fragen gibt es auch nach der Krise keine einfachen Antworten. Der Versuchung, die Entscheidungen weiterhin einfach einer kleinen Gruppe (Bundesrat, Virologen, Immunologen, Experten, Militär) zu überlassen und sich den harten Fragen nach dem Wert des Lebens und dem eines lebenswerten Lebens und damit verbundenen Entscheidungen nicht zu stellen, mag gross sein. Das wäre aber auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene ein totales Scheitern und Versagen. Statt dessen muss jeder Position beziehen und diese im politischen Diskurs auch vertreten. Die nächste Krise, der nächste Virus kommt bestimmt. Wir können und werden aber besser darauf vorbereitet sein, wenn wir jetzt die richtigen Lehren ziehen und uns darüber einig sind, welchen Preis wir als Gesellschaft bereit sind zur Rettung von Leben und Werten zu bezahlen.

2 thoughts on “Die unmögliche Abwägung zwischen Menschenleben und dem wirtschaftlichen Überleben – und wieso sie trotzdem gemacht werden muss

  1. Lieber Helmi
    Hervorragende Gedanken und Feststellungen mit spannenden Fragestellungen. Für mich ist eine WHO, die mehrheitlich mit Stiftungen privatfinanziert ist und daher auch Interessen der Life Sciences Unternehmen und des versteckten CEO dieser Organisation eine Rolle spielen, was wir aktuell in dieser aktuellen Situation vorfinden. Da spielen ganz grosse Tiere Monopoly mit der ganzen Welt! Übrigens würde ich allen den Film «Outbreak» mit Dustin Hoffmann empfehlen zu schauen und nachzudenken. Vielleicht wird da Einiges klarer. Ich würde mich über eine sachliche und konstruktive Diskussion sehr freuen. Was habt ihr als Lesende für Gedanken, was beschäftigt euch am meisten, teilt es hier auf dieser coolen Plattform! Vielen Dank Peter

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