«Leid verhindern» als neues Ziel der Corona-Massnahmen. Ist «Long-COVID» das neue «Schleudertrauma»?

«Leid verhindern» als neues Ziel der Corona-Massnahmen. Ist «Long-COVID» das neue «Schleudertrauma»?
Medienkonferenz des Bundesrates zur Coronavirus-Krise vom 13. März 2020. (Foto: admin.ch)

Endlich legt der Bundesrat einen Plan vor, wie er gedenkt, aus der «besonderen Lage» herauszufinden und die Massnahmen schrittweise wieder zurückzunehmen. Unklar ist nach wie vor, was genau das Ziel der Massnahmen ist. Hier erhöht der Bundesrat die Schwammigkeit, anstatt Klarheit zu schaffen.

Von Helmuth Fuchs

War in der ersten Phase und beim Anstieg der Messgrössen (Positive Tests, Belegung von Spital- und Intensivbetten, Todesfälle, R-Wert) im Oktober und November das primäre Ziel, eine Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern, würden die Zahlen seit Dezember Anlass dazu sein, den Abbau der Massnahmen zu planen. In diesem Sinne hat der Bundesrat jetzt endlich reagiert und einen Plan zur Aufhebung der Massnahmen vorgelegt.

Der (Rettungs-)Sprung ins Vage bei der Zielsetzung
Bei der Zielsetzung macht er dagegen einen Schritt zurück ins Vage. Das Gesundheitswesen wurde erfolgreich vor der Überlastung geschützt, das Virus stellt für die allermeisten Menschen in der Schweiz keine tödliche Bedrohung dar. Gefragt, was denn nun das Ziel der Massnahmen sei, definiert Bundesrat Alain Berset es folgendermassen: «Es geht darum, Leid zu verhindern» (Blick, 17.2.2021). Ein «guter Zugang zum Gesundheitssystem» gehöre dazu. Konkrete Ziele wie etwa zu Fallzahlen will Berset nicht nennen. «Das ist keine exakte Wissenschaft». Man müsse jeweils verschieden Faktoren gegeneinander abwägen. 

Wer grundlegende Freiheiten einschränkt und faktische Berufsverbote verhängt, ist auf die breite Unterstützung der Bevölkerung angewiesen. Dazu benötigt die Bevölkerung ein klares Ziel und Massnahmen, die zur Zielerreichung notwendig und wirksam sind. «Leid verhindern» garantiert den Ausnahmezustand mit Sonderrechten für die nächsten paar Dekaden und schützt die Akteure vor jeglicher Verantwortlichkeit, da alle Massnahmen irgendwie gerechtfertigt werden können. Bewusst wird das Terrain der exakten oder nur schon messbaren Wissenschaft verlassen und man rettet sich ins Allgemeine, Unverbindliche.

Leid verhindern durch Leid schaffen an anderer Stelle?
Wie bei allen gesundheitlichen Massnahmen sollte die Therapie zumindest nicht mehr Schaden anrichten als die Krankheit selbst. Von den 9’190 Menschen, die bis anhin an und mit dem Coronavirus gestorben sind, waren 72% (6’627) älter als 80 Jahre. Fast 92% der Verstorbenen waren älter als 70 Jahre. Für 82% der Bevölkerung (unter 65-Jährige) stellt das Virus keine signifikante lebensbedrohliche Krankheit dar. Die 5.2% der in der Schweiz lebenden Menschen, die älter als 80 Jahre sind, haben das grösste gesundheitliche Risiko.

Wer also Leid verhindern will, sollte vor allem bei jenen Menschen ansetzen, die älter als 65 Jahre sind und in dieser Altersgruppe speziell die über 80-Jährigen schützen. Dies würde vor allem durch Testen derjenigen Personen erreicht, welche den häufigsten Kontakt mit den ältesten Menschen haben: Das Pflege- und Betreuungspersonal, sowie die BesucherInnen der Alters- und Pflegeheime. Gerade hier gibt es aber erstaunlicherweise keine Testpflicht.

Dazu Martin Kulldorff, Professor für Medizin an der Harvard Medical School und Biostatistiker und Epidemiologe am Brigham and Women’s Hospital:

«Die öffentliche Gesundheit sollte sich auf Hochrisikopopulationen konzentrieren. Bei #COVID19 wurden viele Standardmaßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens nie zum Schutz von älteren Menschen mit hohem Risiko eingesetzt, was zu unnötigen Todesfällen führte.» Prof. Martin Kulldorff

Diejenigen, die das gesundheitlich höchste Risiko haben und diejenigen, die unter den Massnahmen zur Bekämpfung des Viruses am meisten leiden, könnten unterschiedlicher nicht sein. Während praktisch alle gesundheitlich Betroffenen nicht mehr im Berufsleben stehen, treffen die Massnahmen vorwiegend die Berufstätigen aller Altersgruppen. Jugendliche, die in ihrer Ausbildung behindert werden und nach ihrer Ausbildung keine Anstellung finden, ganze Berufsgruppen, denen die Ausübung des Berufes untersagt wird. Kinder und Jugendliche, deren und Bildungschancen und soziale Bewegungsfreiheit massiv eingeschränkt und und die innerhalb der Familie zunehmenden Stresssituationen und Misshandlungen ausgesetzt sind. Der fast exklusive weltweite Fokus auf das Coronavirus führt zu einer Zunahme anderer Krankheiten.

Inzwischen untersucht unter der Leitung von ProfessorInnen der Universitäten Harvard, Stanford und Oxford eine internationale Gemeinschaft von Forschern die Ergebnisse und die Wirksamkeit von Massnahmen zur Eindämmung von SARS-CoV-2.

Wirksamkeit der Massnahmen
Abstand, Hygiene, Vermeidung von grossen Menschenansammlungen über längere Zeit sind Massnahmen, welche einen offensichtlichen und messbaren Nutzen haben. Die Wirksamkeit von Shut- und Lockdowns wird aber immer mehr in Frage gestellt und auch Infektions- oder Todesfallzahlen liefern keinen schlüssigen Hinweis für deren Wirksamkeit, zumal einem Lockdown nach der Öffnung meist die nächste Phase steigender Zahlen folgt und so der nächste Lockdown ansteht.

Prof. Martin Kulldorff hat zwölf wichtige Prinzipien des Gesundheitswesens und deren Bedeutung für die aktuelle Pandemie in einer kurzen Serie von Tweets zusammengefasst:

Länder innerhalb Europas haben trotz unterschiedlich strenger Massnahmen teilweise ähnliche Verläufe. Auch der viel gescholtene «Schweizer Weg» hat nach dem Höhepunkt Ende Oktober einen stark fallenden Verlauf genommen.


Die Angst vor den Mutationen
Der Bundesrat hat die Verschärfung und Aufrechterhaltung der Massnahmen mit der Zunahme der potentiell gefährlicheren Mutationen (zum Beispiel B.1.1.7) begründet. Inzwischen zeigt sich aber, dass auch in Ländern mit einem hohen Anteil an mutierten Viren und einem höher belasteten Gesundheitssystem Todesfälle und Anzahl positiv Getesteter ähnlich steil nach unten gehen, wie dies in Ländern mit einem tieferen Anteil an Mutationen der Fall ist.

Prof. Marcel Tanner, ehemaliges Task-Force-Mitglied fasst die Situation im Interview mit dem Tagesanzeiger folgendermassen zusammen:

«Die guten Nachrichten sind: Die Varianten sind nicht pathogener als das Original, und der Impfstoff wirkt bei uns auch gegen die Mutanten. Nun müssen wir diese guten Nachrichten kommunizieren und nicht nur Worst-Case-Szenarien aufzeigen. » Prof. Marcel Tanner, Tagesanzeiger, 16.2.2021

Mutationen bei Viren sind im Übrigen keine Ausnahme, sondern die Regel und bekannt zum Beispiel von den Influenza Viren (Grippe). Die Angst vor möglichen neuen Mutationen würde auch hier nur dazu führen, dass die «besondere Lage» auf unabsehbare Zeit aufrecht erhalten werden müsste.

Folgt auf COVID «Long-COVID»?
Vorneweg: Es gibt sehr schwere Verläufe von COVID19 mit Befall mehrerer Organe und neurologischen Ausfällen. Diese können dann auch zu lang anhaltenden Genesungsprozessen mit noch unklarem Ausgang führen. Medizinisch nachweisbare schwere Heilungsverläufe sind vor allem nach einer Hospitalisation auf der Intensivpflege-Abteilung (zum Beispiel nach einer künstlichen Beatmung) zu erwarten.

Das Medianalter der Hospitalisierten liegt in der Schweiz bei 74 Jahren, 77% der Hospitalisierten sind über 60 Jahre alt. 44% haben eine Lungenentzündung. Das gibt schon einen Hinweis darauf, dass nach einem Spitalaufenthalt die vollständige Genesung einige Zeit in Anspruch nehmen wird.

Vor allem in den Sozialen Medien und zunehmend auch in den Massenmedien mehren sich die Äusserungen zu «Long-COVID». Kein eigentlicher medizinischer Begriff, umfasst er alle Auswirkungen, die nach zwei und mehr Wochen noch spürbar sind. Medizinische Langzeituntersuchungen dazu gibt es in der Schweiz noch keine (dazu ist auch die Verlaufszeit noch zu kurz), ebenso werden die wenigsten der positiv Getesteten ausserhalb der Krankenhäuser medizinisch abgeklärt und begleitet, so dass belastbare Zahlen vorliegen könnten.

In der Schweiz wurden in einer Studie von Prof. Milo Puhan und seinem Team von der Universität Zürich 437 Personen sechs Monate nach ihrer Krankheit zu ihrem Befinden befragt. Die häufigsten genannten Beschwerden waren: Müdigkeit, Angstzustände, Depression und Kurzatmigkeit. Barbara Bertisch, Leitende Ärztin des Checkin Helvetiaplatz in Zürich und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institute of Global Health der Universität Genf hat die Studie eingehender beleuchtet in ihrem Artikel in der NZZ.

Daraus macht das SRF dann einen Beitrag mit dem reisserischen Titel: «Jeder Vierte ist von Long Covid betroffen«. Dies wird natürlich in den medialen Echokammern genau so weiter geteilt und hochgerechnet, dass hundertausende von SchweizerInnen von Long-COVID bedroht seien, während man in Grossbritannien bei achtfacher Bevölkerung und viel mehr schweren Verläufen von zehntausenden bis hunderttausend möglichen Long-COVID-Patienten spricht.

«Long-COVID» das neue «Schleudertrauma»?
Fast all diese Studien beruhen auf Umfragen, teils über Telefon und Facebook, nicht auf medizinischen Untersuchungen. Dass sich mittlerweile fast alle Menschen infolge des Shutdowns, müde und depressiv fühlen, die mediale Dauerbefeuerung mit dramatisierenden Titeln und reisserischen Geschichten Ängste und Unsicherheit schürt, bleibt unbeachtet. Aktuell würde eine Umfrage unter nicht an COVID-Erkrankten genau so hohe Werte bei den Symptomen Müdigkeit, Angstzustände und Depression liefern wie die Schweizer Studie.

Spätfolgen einer noch wenig bekannten Krankheit sind immer ernst zu nehmen. Ernst nehmen heisst aber eben, dass man medizinische Untersuchungen über längere Zeit vornimmt und nicht über Telefon und Soziale Medien Umfragen macht. «Long-COVID» wird ansonsten zum Tummelplatz für Aufmerksamkeitssuchende, Zankapfel zwischen Krankenkassen und Patienten und wegen der sehr unspezifischen Symptome zum Platzhalter für andere Probleme. Ein wenig wie das vor allem in der Schweiz bekannte Schleudertrauma.


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One thought on “«Leid verhindern» als neues Ziel der Corona-Massnahmen. Ist «Long-COVID» das neue «Schleudertrauma»?

  1. Dieser Artikel spricht mir aus dem Herzen. Das nicht messbare Ziel «Leid verhindern» ist der Türöffner weitere Willkür und Beliebigkeit unserer Politik. Leid gehört ein Stück weit zum Leben, mindestens wenn man dabei den Tod im Fokus hat. Und dieses lässt sich nicht verhindern, weil jeder einmal stirbt. Das ganze Leid, dass zurzeit angerichtet wird, um Leid zu verhindern, müsste nicht sein und ist durch die Politik verschuldet. Deshalb wäre als Messlatte wieder die Auslastung der Krankenhäuser zu nehmen sinnvoller, weil messbar.

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