Können wir jetzt Corona oder nicht? Eigentlich schon, aber…

Können wir jetzt Corona oder nicht? Eigentlich schon, aber…

Die Schweiz gehört in der zweiten Welle weltweit zu den Ländern mit den meisten Toten pro 100’000 Einwohnern und den höchsten Zahlen positiv Getesteter. Viele ziehen daraus den Schluss, dass die Schweiz krachend gescheitert sei mit ihrem Weg. So einfach ist es aber auch hier nicht, weil dies nur ein Schnappschuss ist und nicht ein Fazit eines länger anhaltenden Prozesses.

Von Helmuth Fuchs

Die erste Welle hat die Schweiz vergleichsweise gut gemeistert, in der zweiten gehört sie zu den Verliererinnen im internationalen Vergleich bezüglich der Anzahl Toter und positiv Getesteter.

Wie steht’s um das Gesundheitswesen?

Von Beginn weg wurden sämtliche Massnahmen primär mit dem Schutz des Gesundheitswesens vor einer Überlastung begründet. Das ist in einem fast schon kontraproduktiv gutem Ausmass gelungen. Spital-MitarbeiterInnen wurden teilweise in Kurzarbeit geschickt, da es ein Operationsverbot gab, mit wenigen Ausnahmen kamen die Schweizer Spitäler nicht annähernd in die Überlastungszone und konnten auch PatientInnen aus dem Ausland zur Pflege übernehmen.

In der zweiten, höher gehenden Welle, wurde die Situation in den Spitälern sehr viel prekärer. Einzelne Spitäler waren überlastet und mussten PatientInnen über die Kantonsgrenze in andere Spitäler verschieben. Intensivpflegeplätze waren gesamtschweizerische zu gut 80% ausgelastet, wobei jetzt nicht mehr von maximal verfügbaren Plätzen die Rede war (ca. 1’500 in der ersten Welle), sondern nur noch von «zertifizierten» Plätzen (knapp 900). Einzelne Spitäler und Chefärzte wandten sich mit hoch emotionalen Videos und Botschaften an die Öffentlichkeit, um die Überlastung des Personals zu dokumentieren.

Aktuelle Auslastung Intensivpflegeplätze: 75%, allgemeine Spitalbetten: 70%

Bis anhin wurden in der Schweiz mehr als 17’300 Hospitalisationen wegen Corona verzeichnet, davon 13’300 in der zweiten Welle. Pro Jahr werden seit 2015 ca. 1.2 Millionen Hospitalisationen (1.4 Millionen, wenn man die Spezialkliniken dazu zählt) vorgenommen.

Eine Überlastung der Kapazitäten im Gesundheitswesen ist bei Epidemien keine Ausnahme. Zuletzt gab es zum Beispiel in der Westschweiz auch bei der starken Grippewelle im 2017 keine freien Betten mehr und Patienten mussten in andere Spitäler verlegt, Operationen verschoben werden.

Diese Überlastung eines Teils des Personals ist real und ernst zu nehmen. Gleichzeitig muss man auch festhalten, dass dies nicht alle Mitarbeitenden im Gesundheitswesen gleich betrifft, sondern vor allem diejenigen, welche sich um CoronapatientInnen, besonders auf den Intensivpflegeplätzen, kümmern. Die teuren Intensivplätze sind auch zu Normalzeiten gezielt zu über 70% ausgelastet. Aktuell ist die Auslastung 76% bei den Intensivpflegeplätzen, 70% bei den allgemeinen Spitalbetten. (Zahlen: BAG, Aufbereitung: Rob Salzer und Tagesanzeiger)

Auch in der bisherigen Spitze der Auslastung des Gesundheitswesens in einer der grössten Pandemien musste erfreulicherweise beim Personal kein Ferienstopp veranlasst werden. Das zeigt, dass das Ziel, das Gesundheitswesen weitgehend vor Überlastung zu schützen, erreicht wurde mit den Massnahmen.

In der jetzigen Situation, mit Zahlen auf hohem Niveau (positive Tests, R-Wert, Positivitätsrate) gibt es jedoch keinen Grund, die Massnahmen herunterzufahren. Im Gegenteil sind wir alle gefordert, die bekannt wirksamsten Massnahmen (Abstand Hygiene, Meiden von Menschenansammlungen. Maske, wo sich Abstand und Menschenansammlungen nicht vermeiden lassen) noch konsequenter umzusetzen.

Übersterblichkeit bei den über 65-jährigen und Untersterblichkeit bei den übrigen Altersgruppen

Während bei den unter 65-Jährigen die Sterblichkeit im Vergleich des Durchschnittes der Jahre 2015 bis 2019 in diesem Jahr teilweise tiefer liegt (20-39 Jahre minus 2 Prozent; 40-64 Jahre: minus 4 Prozent), liegt sie bei den 65 bis 79-Jährigen 6 Prozent höher und bei den über 80-Jährigen 11 Prozent höher (Zahlen des Bundesamtes für Statistik)

Mit 69’723 Toten bisher (bei 8.84 Millionen Bevölkerung) ist die Anzahl der Toten im 2020 aktuell unter denjenigen des Jahres 2015 (68’786 bei 8.15 Millionen Menschen). Ende des Jahres werden pro 100’000 BewohnerInnen im Jahre 2020 ca. gleich viele verstorben sein wie im Jahre 2015.

Die Zahlen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die anfälligste Gruppe – über 80-Jährige in Pflege und Altersheimen und über 65-Jährige mit Vorerkrankungen – besser hätten geschützt werden können. Da das Virus vor allem für die Ältesten mit geschwächtem Immunsystem tödlich ist, ist es leider auch wenig überraschend, dass schon in der ersten Welle über die Hälfte der Todesfälle in Pflege- und Altersheimen zu verzeichnen war. Eher überraschend ist, dass bis heute das Pflegepersonal nicht kontinuierlich getestet wird und so mögliche Ansteckungen reduziert werden. Mittlerweile mehren sich die Stimmen, dass nebst der Impfpriorität für die ältesten Menschen auch deren Schutz für im Alltag verbessert werden muss durch gezielte Massnahmen.

Zudem wäre es auch sinnvoll, vermehrt Klarheit zu schaffen, welche Krankheitsgeschehen nebst Corona zu einer Übersterblichkeit im 2020 geführt haben. Wenn man die an und mit Corona Verstorbenen isoliert, findet sich nämlich immer noch eine Übersterblichkeit.

Aus dem nicht zielführenden JoJo zwischen Lockdown und Lockerung kommen wir nicht, wenn Gruppen mit hohem Risiko gleich behandelt werden wie solche mit einem tiefen Risiko. Deutschland hat trotz strikteren Massnahmen als die Schweiz mittlerweile wieder eine rapide steigende Anzahl von Toten, dasselbe gilt für Österreich.

Es sind also Massnahmen gefragt, die wissenschaftlich fundiert , zweckmässig und nachhaltig sind.

Überforderung der politischen Strukturen

Die Übernahme der Verantwortung durch die Kantone hat die Schwächen des Föderalismus gnadenlos aufgezeigt. Eine Kakophonie von unausgegorenen Entscheiden, verzögerten Massnahmen, politischen Unstimmigkeiten und Scharmützeln hat dem Virus mehr als der Bevölkerung geholfen.

Während der Bundesrat die Verantwortung den Kantonen übergab, waren deren Vertreter und Behörden zu oft schlecht vorbereitet, unfähig oder nicht willens, diese Verantwortung auch wahr zu nehmen. Tracing, Durchsetzen von Quarantäne und Isolation, Bereitstellung der Informationen und nötiger Infrastruktur. Es haperte an zu vielen Stellen. Ein Resultate ist die weitere Verunsicherung und Spaltung bei der Bevölkerung. Zwischen «Covidioten» und «Schlafschafen» scheint zumindest in den Sozialen Medien keine Schattierung und keine vernünftige Diskussion mehr möglich und dies in einer Zeit, da Selbstverantwortung und Empathie mehr den je gefragt sind.

Der Bundesrat hat in dieser Situation wieder einen Teil der Verantwortung übernommen und einige unpopuläre Massnahmen ergriffen. Wie zielführend es ist, Skilifte und Gondelbahnen, in denen man nur eine kurze Zeit verbringt und deren Betreiber gute Schutzkonzepte haben, still zu legen, während die Züge im Öffentlichen Verkehr während Stunden mit Passagieren vollgepackt durch die Gegend fahren, oder Zehntausende an Flughäfen nach der Wartezeit sich in volle Flieger quetschen, sei dahin gestellt.

Entscheidender wird sein, dass die Lernfähigkeit der Behörden, Regierungs- und Kantonsräte eine steile Kurve nimmt. Der Föderalismus muss in dieser Krise nicht ausgehebelt, sondern intelligenter gemacht werden.

Selbstverantwortung und das Handeln im Sinne der Gemeinschaft

Ebenso muss die Selbst- oder Eigenverantwortung nicht als Unwort diskreditiert werden, wie dies Monika Bütler im Interview mit Watson tut, sondern als eine Kerntugend der SchweizerInnen gestärkt werden. Die Eigenverantwortung hat nichts mit Egoismus und fehlender Solidarität zu tun, sondern fordert im Gegenteil die Menschen, ihr Leben so zu gestalten, dass sie die Verantwortung für das eigene Tun im Licht der gesellschaftlichen Grundwerte wahrnehmen. Oder einfacher ausgedrückt: Man muss sich im Spiegel noch anschauen und als Teil der Gemeinschaft ein gutes Gefühl dabei haben können.

Können wir also Corona?

Ja, auch wenn wir die zweite Welle verstolpert haben. Die Zusammenarbeit zwischen den Spitälern hat zum Schluss funktioniert, die Datenlage wird kontinuierlich besser, es werden vermehrt die Kennzahlen geliefert, welche auch benötigt werden, die Taskforce konnte ihre Position stärken und wissenschaftlichen Aspekten eine höhere Sichtbarkeit verschaffen.

Das Parlament hat weitere Unterstützung für Geschädigte schnell beschlossen, die Impfzulassung verlief im Rekordtempo, die Gruppen mit dem höchsten Risiko werden schnell Zugang zum Impfstoff haben, die Massnahmen werden von den Allermeisten mitgetragen.

Wenn die Perspektive ist, dass wir es nicht mit einem die Gesellschaft zerstörenden Killervirus zu tun haben, wir mit einigen einfachen Massnahmen das Risiko für uns selbst und andere signifikant senken können und die BürgerInnen selbst die Verantwortung für das Wohlergehen Ihrer Liebsten übernehmen, können wir Corona.


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