Coronakrise: Schweizer Sonderweg mit Kommunikations-Kakophonie

Coronakrise: Schweizer Sonderweg mit Kommunikations-Kakophonie

Nach einer vergleichsweise guten Bewältigung der ersten Phase der Coronakrise, in welcher der Bundesrat mit Notmassnahmen Parlament und Volk vom Entscheidungsprozess ausschloss, sind seit dem Sommer Volk, Parlament und Kantone wieder in der Pflicht, die Krise im gewohnten politischen Rahmen zu meistern. Trotz genügend Vorlauf kam es dabei beinahe zur Überlastung des Gesundheitssystems mit vergleichsweise hohen Zahlen an positiv Getesteten, Spitalüberweisungen und Toten. Trotzdem ist der Sonderweg für das Land längerfristig wahrscheinlich erfolgreich.

Von Helmuth Fuchs

Der Bundesrat hat, im Gegensatz zu den Kritikern seines Verhaltens, verstanden, dass er nicht über lange Zeit mit Notmassnahmen unter Ausschluss der vorhandenen politischen Strukturen eine Gesundheitskrise bekämpfen kann, ohne dabei die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen des Landes nachhaltig zu beschädigen.

Föderalismus kann Pandemie nicht, kann und muss es aber lernen
Deshalb hat er im Sommer die aussergewöhnliche Situation beendet und damit das föderale System mit den Befugnissen, Pflichten und der Machtverteilung auf die verschiedenen Stufen wieder eingeführt. Das hat erwartungsgemäss dazu geführt, dass Entscheidungen langsamer gefällt, hinterfragt und teilweise blockiert wurden. Zudem glaubte die Bevölkerung nach zwischenzeitlich sehr tiefen Kennzahlen, dass das Virus keine allzu grosse Bedrohung mehr sei. Bestehende Prozesse, die oft nicht für eine solche Krise geschaffen wurden, erwiesen sich zusätzlich als Hindernis für eine effiziente Bekämpfung des Virus, fehlende Koordination zwischen Kantonen, veraltete technische Infrastrukturen und nicht vorhandenes Wissen oder fehlendes Personal führten zu einem rasanten Anstieg der gemessenen Zahlen zu Beginn der Grippe- und Erkältungssaison seit Oktober.

Statt aber die Macht und Entscheidungsgewalt einfach wieder dem Bundesrat zuzuschieben, müssen die Kantone, Städte, Spitäler und die Bevölkerung ihre eigene Verantwortung, die mit den Rechten verbundenen Pflichten wieder wahrnehmen. Auf allen Stufen werden genau dafür Politiker, Beamte und Experten bezahlt. Schneller und einfacher geht es dort, wo die Macht zentriert wird, nachhaltiger und langfristig in unserer Demokratie geht es aber nur, wenn alle Beteiligten gemäss ihren Rollen die Aufgeben übernehmen. Dass in einer solchen aussergewöhnlichen Situation Fehler gemacht werden, die Lernkurve oft nicht steil genug ist und es deshalb zu unnötigen Opfern kommen kann, ist ein schmerzlicher Preis für unser System.

Die Schweiz, das neue Schweden
Wie zuvor der «Schwedische Weg» wurde nun der «Schweizer Weg» zum Synonym für eine gescheiterte Strategie im Umgang mit dem Coronavirus. Und wie zuvor bei Schweden ist diese Verurteilung zu kurz gegriffen und der Weg könnte sich im Nachhinein für die Schweiz als richtig erweisen.

Die Schweiz hat es verpasst, sich in der ruhigen Sommerphase gezielt auf die nächste Welle vorzubereiten. Viele Spitäler haben ihre Infrastruktur, die Personalbestände und auch die Abläufe kaum so vorbereitet, dass die zweite Welle besser hätte bewältigt werden können. Offensichtlich ging man davon aus, dass wiederum die Ausbreitung über einen Lockdown gestoppt und damit das Gesundheitssystem nicht über den Normalzustand belastet würde.

Die weitgehenden Lockerungen und Aufhebungen der Massnahmen wurde von der Bevölkerung als Rückgang zum früheren Normalzustand interpretiert, die grundlegenden Massnahmen des Abstandes, der Hygiene und der Meidung von grossen Menschenansammlungen verschwanden aus dem Fokus. Nicht verschwunden war aber das Virus.

Das Resultat ist ein im Vergleich mit den Nachbarländern höhere Todesfallrate pro 100’000 Einwohnern. Im Gegensatz zu den Nachbarländern haben aber die als zu lasch kritisierten Massnahmen gegriffen und die Zahlen sind wieder rückläufig, während sie in den Vergleichsländern noch am Steigen sind.

Schweden hat offensichtlich aus den Fehlern der ersten Phase gelernt, hatte nur einen kurzen und weniger hohen Anstieg bei den Todesfällen und wie die Schweiz jetzt eine fallende Kurve. Innerhalb der Schweiz fällt der Kanton Schwyz als Extrembeispiel auf. Ein «Superspreader-Anlass» (Jodelmusical in Schwyz) katapultierte den Kanton an die Spitze, mit der höchsten Zahl an positiv Getesteten, die Leitung des Kantonsspitals in Schwyz machte Schlagzeilen mit einem dramatischen Hilferuf-Video, in dem von der völligen Überlastung die Rede war. Drei Wochen später liegt der Kanton mit den tiefsten Zahlen am Ende der Liste.

Rega, Militär, Zivilschutz, Kooperation und gesellschaftlicher Zusammenhalt
In der Schweiz ist die Situation bezüglich der Überlastung der Spitäler in wenigen Kantonen so, dass Kranke in andere Spitäler verlegt werden müssen. Das funktioniert dank der Unterstützung der Rega und der Koordination der Kantone sehr gut und ist genau der Weg, den der Bundesrat vorgegeben hat. In der Krise müssen die Kantone lernen, Engpässe innovativ und in Zusammenarbeit mit anderen Kantonen zu beheben. Genau so lernt die Bevölkerung und jeder Einzelne, sich in der neuen Situation so zu verhalten, dass er und seine Nächsten eine gute Balance hinbekommen zwischen körperlicher, mentaler und wirtschaftlicher Gesundheit. Zur Bewältigung der Ausnahmesituation hilft das Militär, der Zivilschutz, Pensionierte und Studenten. Dies wiederum wird den Zusammenhalt der Gesellschaft als Ganzes stärken, das Verständnis um die Not der anderen.

Wer dauernd nach härteren Massnahmen und einem sofortigen Lockdown ruft, ignoriert, dass Lockdowns das Problem nicht beheben, sondern verschärfen. Das Virus wird nach Aufhebung des Lockdowns erneut aufflammen, die Wirtschaft wird nachhaltig geschädigt, da sie nicht einfach wieder auf das Niveau des Zustandes vor dem Lockdown zurückspringt. Die Bevölkerung wird gesamthaft übermässig gestresst und einer ungewissen Zukunft ausgesetzt, während man weiss, dass das Virus vor allem für Menschen über 70 ein erhöhtes Todesfallrisiko darstellt.

Marcel Tanner, Mitglied des wissenschaftlichen Beirates, der COVID-19 Task Force des Bundes, erläutert die Situation (trotz der ziemlich penetrant suggestiven Fragen der SRF-Journalistin) sachlich im Rundschau-Beitrag vom 18. November 2020.

Kommunikations-Kakophonie aus dem KDS
Mitten in die durch kommunikative Alleingänge aus der Task Force schon aufgeheizte Stimmung und Diskussion, wie lange die Bettenkapazitäten in den Spitälern ausreichen würden, platzen der Koordinierte Sanitätsdienst (KDS) und die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin mit der Meldung, dass alle «zertifizierte und anerkannte» Intensivbettenkapazitäten ausgeschöpft seien.

Bis anhin ging man von ca. 1’100 Intensivpflegeplätze in der Schweiz aus, die man bei Bedarf auf ca. 1’400 erhöhen könnte, mit gewissen Abstrichen an der Qualität und der Unterstützung durch die Armee, Zivilschutz, Pensionierte Fachkräfte. Die plötzlich alarmierende Nachricht, dass alle «zertifizierten» Plätze vergeben seien wurde auch international in den Medien aufgenommen und die Situation in der Schweiz wurde verglichen mit derjenigen in Italien im Frühjahr, als Kranke und Tote in den Spitalgängen liegen gelassen wurden. Dies entspricht in keinster Weise den Tatsachen, wie auch die NZZ anmerkte und die geänderte Kommunikation mit «zertifizierten Plätzen» lässt sich nur damit erklären, dass man hier über eine verunsicherte Bevölkerung gezielt politischen Druck aufbauen möchte zur Verschärfung der Massnahmen. Statt sich der gezielt polarisierenden Kommunikation zu verwehren und die etablierten Kenngrössen weiterhin zu verwenden hat das BAG die neue Sprachregelung gestützt und in der Pressekonferenz übernommen.

Das führte auch prompt zu absurden und hetzerischen Stimmen, welche wie der Gesundheitsökonom Willy Oggier eine Gesinnungs-Triage forderten. Wer Massnahmen oder Expertenaussagen skeptisch gegenübersteht, soll im Fall einer Erkrankung seinen Platz in der Notaufnahme verwirken.

«Ich schlage vor, dass Corona-Skeptiker ihr Recht auf ein Akutbett oder einen Intensivplatz verwirken, falls es zu Engpässen kommt.» Willy Oggier, 16.11.2020 im Tagesanzeiger-Interview

Ideen, welche in ihrer Hässlichkeit und ihrem gesellschaftlichen Spaltungspotential nur noch schwer zu überbieten sind und als direktes Resultat der dauerhaft alarmierenden Kommunikation jener Kreise zu verdanken sind, denen die Freiheiten der Bevölkerung zu weit und die Massnahmen des Bundesrates zu wenig weit gehen.

Jedes Land muss den eigenen Weg finden
Schweden und die Schweiz setzen darauf, dass das Volk einsichtig genug ist, Massnahmen, welche eine möglichst gute Balance zwischen Gesundheit, Bewegungsfreiheit, Wirtschaft und Sozialem Leben gewährleisten, zu verstehen und umzusetzen. Das benötigt auf allen Seiten eine Lernkurve. Andere Länder mit anderen politischen und wirtschaftlichen Systemen und Traditionen können Hinweise geben, mehr nicht. Eine erfolgreiche Umsetzung geht in Demokratien, vor allem in der schweizerischen Direktdemokratie nur mit, nicht gegen das Volk. Und es braucht dazu auch keine manipulative Kommunikation, die auf möglichst viel Drama und Angst setzt, sondern eine faktenbasierte Darstellung der Situation, mit minimalen, dafür funktionierenden Massnahmen auf Bundesebene und situativ weiterführenden Regelungen auf Kantonsebene. Dazu eine Kooperation zischen den Kantonen, dem Einsatz einer vom Bund unterstützten, funktionierenden Test- und Tracing-Infrastruktur (inklusive einer akzeptablen App).

Die Chance in dieser Krise ist, dass die Bevölkerung mental näher zusammenrückt, neue Technologien zum Einsatz kommen und die Fähigkeiten erworben werden, in kommenden Gesundheitskrisen schneller und effizienter zu agieren.


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