Drama im Unterhaus: Johnson verliert vor Brexit-Abstimmung Mehrheit

Drama im Unterhaus: Johnson verliert vor Brexit-Abstimmung Mehrheit
Grossbritanniens Premierminister Boris Johnson. (Foto: UK Government / Flickr)

London – Spektakulärer neuer Akt im Brexit-Drama: Gleich zu Beginn einer parlamentarischen Auseinandersetzung über einen No-Deal-Brexit im britischen Unterhaus hat Premierminister Boris Johnson seine Mehrheit eingebüsst. Noch während Johnson am Rednerpult stand, verliess der konservative Abgeordnete Phillip Lee am Dienstag aus Protest gegen Johnsons Brexit-Politik demonstrativ die Regierungsfraktion und nahm zwischen den Oppositionsabgeordneten Platz. Damit ist Johnsons hauchdünne Mehrheit endgültig weg.

Die Konservativen hatten nur wenig Zeit, den Schlag zu verdauen. Als nächstes stand ein beispielloses Manöver auf der Tagesordnung, um beim Brexit-Kurs der konservativen Regierung das Ruder in letzter Minute noch herumzureissen. Parlamentspräsident John Bercow liess gegen die Wünsche der Regierung eine Dringlichkeitsdebatte zu. Damit wollten Opposition und Rebellen in der Regierungsfraktion die Kontrolle über die Tagesordnung im Parlament an sich reissen. Darüber sollte am späten Dienstagabend abgestimmt werden.

Kritiker wollen Johnson in die Schranken weisen
Wenn die Kritiker Johnsons die Abstimmung gewinnen, wollen sie ab Mittwoch in Rekordzeit ein Gesetz durch das Parlament peitschen, das Johnsons Handlungsspielraum erheblich einschränken würde. Sollte bis zum 19. Oktober kein mit der EU vereinbartes Austrittsabkommen vorliegen, verpflichtet das Gesetz den Regierungschef, in Brüssel eine neue Verschiebung des Austritts aus der Europäischen Union zu beantragen. Die 27 EU-Staaten müssten dem Antrag jedoch einstimmig zustimmen. Frankreich war aber schon im April anfänglich gegen die damalige Fristverlängerung.

Das Vorgehen ist beispiellos. Die Abgeordneten sahen sich zu diesem Manöver gezwungen, weil Johnson dem Parlament eine mehrwöchige Zwangspause verordnet hat, die bereits in der nächsten Woche beginnt. Die Abgeordneten sollen dann erst wieder am 14. Oktober zurückkehren. Dagegen laufen gerichtliche Verfahren, unter anderem in Schottland.

Angst vor No-Deal-Brexit
Die Parlamentarier wollen verhindern, dass Grossbritannien am 31. Oktober ohne Übergangsregeln aus der EU ausscheidet. Sie warnen vor Chaos, Nahrungsmittelknappheit und einem Konjunktureinbruch. Johnson will die Option eines ungeregelten Austritts aber offenhalten, weil er hofft, die EU damit zu Konzessionen zu bewegen.

Johnson kritisierte den geplanten Gesetzentwurf der No-Deal-Gegner scharf. Das käme einer «Kapitulation» gegenüber Brüssel gleich. «Es würde unseren Freunden in Brüssel ermöglichen, die Bedingungen der Verhandlungen zu diktieren», sagte der Premier. Vor allem der sogenannte Backstop – eine von der EU geforderte Garantieklausel für eine offene Grenze in Irland – müsse gestrichen werden. Aufseiten der EU gebe es Bewegung, sagte Johnson. «Die Chancen für einen Deal sind gewachsen.» Nach Angaben der EU-Kommission waren inhaltliche Fortschritte bis Dienstag nicht zu vermelden.

Neuwahlen am 14. Oktober?
Johnson hat die Abstimmung am Dienstagabend vorher zur Vertrauensfrage erklärt. Sollte die Regierung verlieren, will er nach Angaben aus Regierungskreisen eine Neuwahl beantragen. Diese könnte schon am 14. Oktober stattfinden.

Dafür bräuchte er aber zwei Drittel der Stimmen im Unterhaus. Die grösste Oppositionspartei, Labour, ist zwar nach Angaben ihres Chefs Jeremy Corbyn bereit für eine Wahl. Sie könnte aber aus taktischen Gründen dagegen stimmen. Andere Optionen wären, dass Johnson einen Misstrauensantrag gegen die eigene Regierung einbringt, der nur eine einfache Mehrheit bräuchte. Auch die Opposition könnte einen Misstrauensantrag stellen.

Von wegen der feinen britischen Art
Johnson hat den Abweichlern den Rauswurf aus der Fraktion angedroht. Kritiker aus den eigenen Reihen abzusägen, das erinnert viele an US-Präsident Donald Trump. Der macht Kandidaten, die ihm nicht genehm sind, schon mal auf Twitter nieder. So etwas gibt es bei Johnson zwar nicht. Die britische Politik lebt von einem ausserordentlich höflichen Ton und jahrhundertealten Konventionen und Gepflogenheiten. Doch zeigt Johnson Appetit, diese über den Haufen zu werfen. Zum Beispiel mit der gut vierwöchige Zwangspause, die er dem Parlament verordnet hat, um ellenlange Brexit-Debatten zu verhindern. So eine lange Suspendierung gab es seit Jahrzehnten nicht mehr.

Die Rebellen halten sich auch nicht mehr an die feine britische Art, bei Verdruss nur empört die Augenbraue hochzuziehen, sondern gehen offen auf Konfrontation zu Johnson. «Es gibt zweifellos eine neue Rücksichtslosigkeit beim Premierminister», konstatierte Dominic Grieve. Ex-Schatzkanzler Philip Hammond kündigte an, seine Partei gegen Neulinge zu verteidigen, die die einst breite Volkspartei auf einen schmalen Pfad einschwören wollen. Er sprach von «Leuten, die im Zentrum dieser Regierung sitzen, die vielleicht noch nicht einmal Mitglieder der konservativen Partei sind und denen die Zukunft der Partei egal ist». Das bezog sich auf Dominic Cummings, Johnsons wichtigsten Berater, der die Strippen in der Downing Street zieht. (awp/mc/pg)

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