Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Die Schweiz in die EU?

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Die Schweiz in die EU?
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – Hoffentlich haben Politbeobachter nicht Recht, wenn sie davon ausgehen, dass Brüssel mit der Schweiz über eine potenzielle Beschränkung der Personenfreizügigkeit gar nicht ernsthaft verhandeln will. Schliesslich haben verschiedene Mitglieder unserer Landesregierung ihre Reiseaktivitäten kräftig hochgeschraubt, um bei jeder sich bietenden Gelegenheit um Verständnis für die seit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative höchst vertrackte Schweizer Position zu werben. Leider mit der Überzeugung, dass die EU die bilateralen Verträge als sakrosankt betrachtet und die Personenfreizügigkeit als heilige Kuh.

Sie dürfte daher kaum zu Zugeständnissen bereit sein, denken wir hierzulande. Mehr als ein höfliches Verständnis für die eidgenössische Position konnte der Bundesrat der EU bisher nicht abgewinnen. Da nützen auch sogenannte Konsultationsgespräche mit Herrn Juncker nichts, der in Brüssel ohnehin weniger zu sagen hat, als viele denken. Weder Kontingente noch der Inländervorrang sind für die EU ein Thema. Unsere Regierung wird sich daher nicht mehr weiter darum drücken können, der Bevölkerung reinen Wein einzuschenken und zu konkretisieren, wie sie die vom Volk gut geheissene Masseneinwanderungsinitiative umzusetzen gedenkt. Und ob überhaupt.

Die Attraktivität der Schweiz hat nicht unter dem Volksentscheid vom 8. Februar 2014 gelitten, das steht allen Unkenrufen zum Trotz schon einmal fest. Netto haben im Jahr 2014 78‘902 Personen ihren Wohnsitz in die Schweiz verlegt. Das sind nur geringfügig weniger als 2013 (-2.7%) und immer noch sehr viel mehr als im Durchschnitt der vergangenen Jahre. Allein plus 11’200 Personen betrug der Saldo der Zuwanderung aus den EU-8 Staaten. Die vor gut einem Jahr am 1. Mai 2014 auslaufende Ventilklausel hatte offensichtlich einen ziemlichen Druck erzeugt, der sich 2014 nun entlud. Zwar sind die Ansiedlungszahlen neuer Unternehmen aktuell rückläufig, aber immer noch beachtlich. Das ist ein deutliches Indiz dafür, dass der Zustrom ausländischer Arbeitskräfte selbst bei grosser Unsicherheit anhält und ein Zeugnis erster Güte für unser Land. Die Schweiz, die sich oft selbst schlecht redet, ist für viele Menschen – nicht nur für solche im erwerbsfähigen Alter – die erste Adresse in Europa, mit Luxemburg allenfalls, aber weit vor Schweden, England oder Deutschland.

Totgesagte leben länger
Denken wir an den 6. Dezember 1992 zurück, der stark an das erinnert, was aktuell passiert und landauf landab wieder so intensiv diskutiert wird. Das EWR-Nein schien das Schicksal der Schweiz endgültig besiegelt zu haben, glaubte man der damaligen Schwarzmalerei in den Medien und breiten Öffentlichkeit. Wir wissen, dass es anders kam und nicht annähernd wie befürchtet. Nach dem kollektiven Katzenjammer im Nachgang der Abstimmung und einer vorübergehenden Paralyse stemmte sich die Schweiz gegen den Wind. Sie revitalisierte die Wirtschaft, zerschlug das Baukartell, schaffte die Grundlagen für Direktzahlungen in der Landwirtschaft, bereinigte die Altlasten aus Immobilien- und Kreditkrise und ersetzte die veraltete Warenumsatzsteuer durch eine wettbewerbsfreundlichere Mehrwertsteuer. In der zweiten Hälfte der 90er Jahre schliesslich begann die Wirtschaft wieder Tritt zu fassen und erntete zunehmend die Früchte der vorausgegangenen „Rosskur“. In der zurückliegenden Dekade war die Schweiz sogar ein Wachstumsoutperformer in Europa, trotz weitverbreiteter Bedenken, der Schweiz drohten bald japanische Verhältnisse. Aber Totgesagte leb(t)en eben doch länger.

Ab ins Mittelmass
Seit dem 8. Februar 2014 schafft sich die Schweiz förmlich wieder selber ab – zumindest partiell. Alles wird plötzlich in Frage gestellt, aber doch wird nichts richtig hinterfragt, exakt wie Ende 1992. Ich weiss natürlich genauso wenig, wie wir das Dilemma, das wir uns da eingebrockt haben, lösen können. Aber die spontane, pauschale Abfuhr aus Brüssel als der Weisheit letzter Schluss hinzunehmen, ist nicht der richtige Weg. Schliesslich hat sich die Schweiz auch vom seinerzeitigen EWR-Nein „erholt“ und einen Weg gefunden, der für alle Parteien gangbar war, auch dank hervorragender Diplomatie.

Wer behauptet, das gehe heute nicht mehr, der wagt zu wenig oder möchte sich nicht aus der Komfortzone rausbewegen. Das liegt zu einem guten Teil daran, dass wir hierzulande ein unglaublich hohes Wohlstandsniveau erreicht haben und nun darum fürchten, Abstriche machen zu müssen. Verlustängste wiegen heute schwerer als Hoffnungen, die sich aus verändernden Rahmenbedingungen ebenso ergeben können. Das ist prekär, denn wenn die Skepsis überwiegt, kommt nur wenig ins Rollen – leider. Oder man streicht gleich die Segel und propagiert die Flucht nach vorn – sprich den Beitritt zur EU, wie dies etwa der Club Helvetique zur Diskussion stellt. Mit allerdings sehr flügellahmen Argumenten. So schlecht stehe es um Europa gar nicht, durfte ich letzte Woche auf einem Podium von einem anderen Podiumsteilnehmer hören. Amerika sei ja noch viel schlechter dran, wenn man die Staatsschulden am BIP betrachte. Und in der Eurozone habe es durchaus Platz für prosperierende Wirtschaftsräume mit hoher Standortqualität wie Baden Württemberg, Bayern, Vorarlberg, die Lombardei oder das Veneto bzw. Elsass-Lothringen zeigten.

Die Schweizer Ängste vor der Eurozone seien folglich übertrieben, die Eurozone sei also besser als ihr Ruf. Da klingt sogar mit, dass ein Beitritt zur Eurozone für die Schweiz unterm Strich positiv sei. Das fehlt mir nun wirklich schwer zu glauben und das sagte ich auch. Kann ein Weltmeister – und die Schweiz ist Weltmeister in Bezug auf die Standortqualität – in Form bleiben, wenn er sich am Mittelmass orientiert und damit tröstet, besser zu sein?

Wohl kaum. Anstatt sich Richtung Durchschnitt zu bewegen, sollte die Schweiz lieber ihren Vorsprung behalten und ihr Heil in der Nähe suchen. Und zwar in der Nähe der Grenze und nicht in Brüssel. Denn in Konstanz, Colmar oder Mailand kennt man die Schweiz wenigstens, und versteht sie auch, da man mit ihr mehr gemeinsam hat, als mit dem Moloch EU. Statt politischer Repräsentanz in Brüssel wäre diplomatische Überzeugungsarbeit entlang der Grenze gefragt. Dort wird die EU schliesslich auch heute noch nicht als alternativlos betrachtet. Und wie ich aus eigener Erfahrung weiss, bewundern viele in Süddeutschland die Schweiz – fast mehr als die EU.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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