Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: K-Wirtschaft

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: K-Wirtschaft
Fredy Hasenmaile, Chefökonom Raiffeisen. (Foto: Raiffeisen)

Wenn sich einzelne Segmente einer Volkswirtschaft sehr unterschiedlich entwickeln, spricht man von einer K-förmigen Wirtschaftsentwicklung – in Anlehnung an die auseinanderstrebenden Striche des Buchstabens K. Eine solche Entwicklung lässt sich gegenwärtig in vielen Ländern beobachten, so auch in der Schweiz. Während die Industrie mit Ausnahme der Pharmabranche seit Anfang des Jahres 2023 in einer Industrierezession feststeckt, entwickelt sich der Dienstleistungssektor ansprechend. Noch vor wenigen Monaten bestand Hoffnung, die Schweizer Exportwirtschaft könne sich vom Kriechgang lösen. Der procure.ch Einkaufsmanagerindex näherte sich gegen Sommer hin der Wachstumsschwelle – eine Erholung schien greifbar. Doch der US-Zollhammer brach der zaghaften Bodenbildung in der Industrie die Spitze und schickte sie wieder auf den Abwärtspfad. Im Gegensatz dazu performt die Binnenkonjunktur weiterhin, getragen von einem robusten Konsum und einem soliden Dienstleistungssektor. Hohe Zuwanderungszahlen sowie ein stabiler Arbeitsmarkt, der den Konsumenten Jobsicherheit vermittelt, bilden die Basis für ein moderates, aber doch stetiges Wachstum.

von Fredy Hasenmaile, Chefökonom Raiffeisen

K beschreibt die Realität am besten
Der Begriff der K-förmigen Wirtschaft gewann im Nachgang zur Corona-Pandemie an Bedeutung. Früher sprach man zumeist von einer U-, V- oder L-förmigen Erholung von Kerngrössen wie Bruttoinlandprodukt, Einkommen oder Beschäftigung – je nachdem, wie schnell die Wirtschaft nach einer Rezession wieder Tritt fasste. Weil nach der Pandemie die Erholung in den einzelnen Wirtschafts-sektoren, Industrien und Bevölkerungsgruppen aber sehr unterschiedlich vonstattenging, war die Bezeichnung der K-Wirtschaft rasch geboren. Gewisse durch die Pandemie verursachte Auslenkungen erwiesen sich als beständig, andere kippten rasch wieder ins Gegenteil. Das Konzept hat seither an Aufmerksamkeit gewonnen, da es die Welt nach der Pandemie immer besser beschrieb, und dies nicht nur in der Schweiz.

Auch in anderen Industrieländern verharrt der Industriesektor in einer hartnäckigen Schwächephase. Produktionsrückgänge, Auftragsmängel und Standortverlagerungen prägen das Bild. Besonders in Deutschland und Teilen Europas ringt die Industrie mit hohen Energiepreisen, geopolitischer Unsicherheit und einem schwächelnden Welthandel. Demgegenüber steht ein weitgehend robuster Dienstleistungssektor. Gastronomie, Tourismus, Freizeit und IT-Dienstleistungen verzeichnen solide Zuwächse, gestützt durch stabile Beschäftigung, Nachholeffekte im Konsumverhalten und fortschreitende Digitalisierung. Diese Diskrepanz zwischen Industrie und Dienstleistungen ist ein Kernmerkmal der K-förmigen Entwicklung – der obere Ast des K steht für Branchen, die florieren, der untere für jene, die stagnieren oder schrumpfen.

K gilt auch für gesellschaftliche Schichten
Auch zwischen den gesellschaftlichen Schichten öffnet sich die Schere weiter. Wohlhabendere Haushalte, die über Immobilien, Aktien oder Unternehmensbeteiligungen verfügen, profitierten in den letzten Jahren, ungeachtet zunehmender Unsicherheiten, von steigenden Vermögenspreisen. Börsenindizes wie der S&P 500 oder der DAX erreichten neue Rekordstände, wodurch Vermögenszuwächse vor allem bei denen stattfanden, die ohnehin Kapital besassen. Für einkommensschwächere Schichten verlief die Entwicklung gänzlich anders. Die hohe Inflation – insbesondere bei Energie, Lebensmitteln und Mieten – traf sie mit voller Wucht. Ihre Kaufkraft sank, die Sparquoten fielen, und trotz nominaler Lohnerhöhungen blieb der reale Zuwachs oft aus. Die K-förmige Erholung zeigt sich somit nicht nur zwischen Branchen, sondern auch zwischen sozialen Gruppen.

Ein Blick auf den Arbeitsmarkt verstärkt dieses Bild. Während Fachkräfte in der IT, im Finanzwesen und in technischen Berufen hohe Gehaltszuwächse verzeichnen, stagnieren die Einkommen in Pflege, Gastronomie oder Einzelhandel. Ökonomen sprechen von einem «angespannten, aber gespaltenen Arbeitsmarkt»: Es herrscht zwar Arbeitskräftemangel, aber oft nicht dort, wo die Löhne niedrig und die Arbeitsbedingungen schwierig sind. In den USA etwa bleibt die Arbeitslosenquote auf niedrigem Niveau, doch die Zahl der Menschen mit mehreren Jobs steigt deutlich – ein Hinweis darauf, dass viele trotz Beschäftigung finanziell nicht über die Runden kommen. Auch in Europa mehren sich Hinweise auf strukturelle Ungleichgewichte, etwa in Frankreich, Italien oder Deutschland, wo die Beschäftigung in der Industrie abnimmt, während im Dienstleistungssektor flexible, aber oft weniger sichere Jobs entstehen.

Digitalisierung, KI und Kapitalmärkte als Beispiele von Trennlinien
Ein zentraler Treiber der K-Form ist die technologische Transformation. Gewisse Arbeitnehmer sparen noch heute im Homeoffice Pendel- und Verpflegungskosten und konnten sogar in die günstigere Peripherie umziehen, während Gewerbe- und Industriearbeiter keine Vorteile errangen und sich vom Druck durch die Automatisierung herausgefordert sehen. Der Technologiesektor selbst blieb während der Pandemie ziemlich robust und profitierte vom Digitalisierungsschub. Grosse Unternehmen, die früh in die digitale Transformation investierten, verzeichnen ebenfalls Produktivitätsgewinne und Marktanteilszuwächse. Mittelständische Unternehmen mit begrenztem Kapitalzugang sehen sich zusammen mit traditionellen Industriekonzernen mit Margendruck und Transformationskosten konfrontiert. Auch an den Finanzmärkten spiegelt sich diese Zweiteilung wider – etwa in der Dominanz der «Magnificent Seven». Hinzu kommen divergierende Energiekosten und der Aufstieg Chinas zu einer modernen, auf Hochtechnologie fussenden Wirtschaft, die den globalen Strukturwandel weiter befeuern.

Ist die K-Form das neue Normal?
Während in einer K-Wirtschaft Wertschöpfung, Beschäftigung und Einkommen im Schnitt moderat steigen und damit aggregiert ein wenig alarmierendes Bild abgeben, verbergen sich dahinter tiefgreifende strukturelle Umwälzungen. Statt einer gleichmässigen Rückkehr zu Wachstum und Stabilität verläuft die Konjunktur entlang getrennter Pfade – Gewinner und Verlierer entfernen sich zunehmend voneinander. Die K-Wirtschaft steht daher sinnbildlich für den Übergang in eine fragmentierte Wirtschaftswelt, in welcher nicht V, U oder L die Realität am besten erfassen, sondern das K. (Raiffeisen/mc)

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