EY-Umfrage: Unternehmen wenden sich von Grossbritannien ab

Zürich – Der bevorstehende Brexit hat bereits gravierende Auswirkungen: Jedes siebte in Grossbritannien aktive Unternehmen (14%) plant, Geschäftsbereiche von Grossbritannien weg zu verlagern. Verlagerungen kommen im übrigen Europa für gerade einmal jedes 50. Unternehmen in Frage, wie dem aktuellen European attractiveness survey von EY zu entnehmen ist. Es wurden relevante Führungspersonen von 254 Unternehmen weltweit befragt, 75 Prozent davon haben ihren Sitz oder eine Filiale in Grossbritannien.

«Der anstehende Brexit sorgt für grosse Unsicherheit bei den in Grossbritannien aktiven Unternehmen, dazu gehören auch viele Schweizer Firmen. Für diese ist es zentral, den Zugang zum britischen Markt nicht zu verlieren, Rechtssicherheit zu behalten und die aktuell guten Rahmenbedingungen auch nach einem Austritt Grossbritanniens weiter zu führen», sagt Marcel Stalder, CEO von EY Schweiz. Viele ausländische Unternehmen, die vor Ort in Grossbritannien aktiv sind, planen eine Verlagerung in andere EU-Länder. Dadurch steigt die Attraktivität der EU weiter: 56 Prozent der befragten Unternehmen wollen ihre Investitionen in Europa ausbauen. «Die EU ist stark und attraktiv genug, um auch ohne Grossbritannien internationale Investoren anzuziehen», ist Stalder sicher.

Deutschland als klarer Brexit-Gewinner
Grösster Nutzniesser eines möglichen Unternehmens-Exodus aus Grossbritannien ist gemäss der Umfrage Deutschland: 54 Prozent der in Grossbritannien aktiven Unternehmen nennen Deutschland als bevorzugtes Ziel ausserhalb Grossbritanniens. Die Niederlande (33 Prozent) und Frankreich (8 Prozent) landen dahinter. Die Schweiz wird nur vereinzelt in Betracht gezogen. Deutschland baut seinen Status als Top-Investitionsstandort Europas weiter aus: Insgesamt 40 Prozent der ausländischen Unternehmen sehen Deutschland als Investitionsziel Nummer Eins – das sind zwei Prozentpunkte mehr als noch vor einem Jahr. Nur noch 22 Prozent (2016: 27%) sehen Grossbritannien als führenden Standort.

«Ein weiteres Erstarken der deutschen Wirtschaft ist grundsätzlich gut für die Schweiz, denn Deutschland ist unser wichtigster Handelspartner. Die Resultate zeigen auch, dass sich Investitionstätigkeiten rasch verschieben, wenn sich die politischen Voraussetzungen ändern. Darauf müssen sich die Schweizer Unternehmen vorbereiten. Auf der anderen Seite ist die Attraktivität der Schweiz als Investitionsstandort nach wie vor hoch: Das Verhältnis zu Europa scheint auf gutem Weg, eine Neuregelung der Unternehmenssteuer ist aber ebenso relevant, um Unternehmen anzulocken, die aus Grossbritannien abwandern wollen», so Stalder.

Fast drei Viertel spüren bereits Auswirkungen des Brexit-Votums
Obwohl Grossbritannien erst in frühestens zwei Jahren tatsächlich aus der Europäischen Union austreten wird, sehen sich international tätige Unternehmen bereits heute mit verschiedenen Folgen des Brexit-Votums konfrontiert: 71 Prozent aller Befragten geben an, bereits konkrete Auswirkungen in ihrem Geschäft zu spüren. Dies betrifft vor allem Margen und Preise: Je ein Viertel gibt an, dass ihre Gewinnmargen geschrumpft sind oder dass sich ihre Einkaufspreise erhöht haben. In Folge des Votums hatte das britische Pfund massiv an Wert verloren, was Importe nach Grossbritannien deutlich verteuerte.

«Der Austritt wird viele exportorientierte Unternehmen auch in der Schweiz vor erhebliche Herausforderungen stellen. Der mögliche Verlust des aktuell ausgezeichneten Marktzugangs ist eine Bedrohung. Allfällige neue Handelshemmnisse, zusätzliche bürokratische Hürden und neue steuerrechtliche Regelungen können für viele Unternehmen eine echte Belastung sein», warnt Marcel Stalder. «Für viele unserer Kunden ist es derzeit äusserst schwierig, langfristige strategische Entscheidungen für ihr Geschäft in Grossbritannien zu treffen. Aber einfach nur abzuwarten ist keine Lösung.»

Jedes dritte Unternehmen in Grossbritannien besorgt wegen Brexit
Den in Grossbritannien ansässigen Unternehmen bereitet der Brexit momentan die grössten Sorgen: Jedes dritte Unternehmen macht sich Gedanken deswegen. Ganz anders bewerten nicht in Grossbritannien ansässige Unternehmen den bevorstehenden Austritt aus der EU: Lediglich 15 Prozent bereitet dieser Kopfzerbrechen. Viel schwerer wiegen aus ihrer Sicht die politische Instabilität in der EU und weltweite sowie die Verlangsamung der weltweiten Handelsströme. «Die Gelassenheit der Wirtschaft ausserhalb Grossbritanniens ist ein positives Signal für die Wirtschafts- und Währungsunion», schätzt Marcel Stalder die Lage ein.

Noch nie seit Beginn der Befragung im Jahr 2004 wurde zudem die Entwicklung der Attraktivi­tät des Standortes Grossbritannien so schlecht bewertet wie diesmal. Mehr als jedes dritte befragte Unternehmen (34%) erwartet, dass die Attraktivität Grossbritanniens in den nächsten drei Jahren abnimmt – der höchste bisher erhobene Wert. Gleichzeitig erwarten nur noch 29 Prozent eine Verbesserung. Zum Vergleich: Im Jahr 2015 lag der Anteil bei 54 Prozent.

Zugang zum Finanzplatz London für Schweizer Firmen
Das weitere Verhältnis zwischen der Schweiz und Grossbritannien ist für die Finan­zdienstleistungsbranche mit ihren umfassenden Aktivitäten auf dem Finanzplatz London von besonderer Bedeutung. «Viele Schweizer Banken und Versicherungen betreuen von London aus Kunden in der EU. Sie müssen die bis zu einem Entscheid verbleibende Zeit nutzen, ihr Reaktionsfähigkeit erhöhen und sich auf alle relevanten Szenarien vorbereiten», so Stalder.

Obwohl die Unternehmen die Folgen des Brexit-Votums bereits zu spüren bekommen, sind sie kaum vorbereitet: Gerade einmal vier Prozent der befragten Unternehmen sind laut eigenen Angaben gut vorbereitet für den Umgang mit den sich verändernden Bedingungen im Zuge des Brexit. Zehn Prozent der Befragten haben bisher keinerlei Pläne erstellt.

Marcel Stalder rät den Unternehmen, möglichst rasch passende Strategie zu erarbeiten: «Volatilität und Unsicherheit ist die neue Normalität. Der Brexit ist nur eine der vielen anstehenden und schlecht planbaren Entwicklungen. Der Amtsantritt von Donald Trump und die dieses Jahr anstehenden Wahlen in Deutschland, Frankreich, Italien und den Niederlanden sind weitere Unsicherheitsfaktoren. In dieser sich immer schneller verändernden Welt müssen international tätige Unternehmen flexibel bleiben und sich Investitionen beziehungsweise Desinvestitionen offen halten. Ein aktives Portfoliomanagement wird dadurch immer wichtiger. Zudem: Wer technologisch vorangeht, kann sich einen wichtigen Vorteil verschaffen: Eine konsequente Digitalisierung aller Geschäftsbereiche hilft Unternehmen, sich schnell und flexibel an veränderte Marktbedingungen anzupassen.» (EY/mc/pg)

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