Schuldenfrei durch die Krise mit Supply Chain Finance

Schuldenfrei durch die Krise mit Supply Chain Finance
(Bild: zvg)

*von Erik Hofmann und Philipp Wetzel

Die «Working Capital Management Studie 2020» des Instituts für Supply Chain Management der Universität St. Gallen beleuchtet Entwicklungen rund um das Thema Supply Chain Finance aus der Unternehmens- und aus der Marktperspektive. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Fakten und Handlungsempfehlungen.

Wenn Unternehmen ihr Working Capital Management (WCM) konsequent mit SCF-Lösungen anreichern, verbessert sich in der Regel die finanzielle Performance nachhaltig. Vorausschauende CFOs haben bereits vor der Covid-19-Krise damit begonnen, ihre Liquiditätsbedürfnisse durch ein konsequentes WCM abzusichern und gemeinsam mit ihren Kunden und Lieferanten in der Supply Chain gebundenes Kapital freizusetzen.

Entgegen dem Trend in den Vorjahren hat das WCM jedoch nicht nur bei Finanzverantwortlichen wieder oberste Priorität, sondern insbesondere auch bei Supply-Chain-Verantwortlichen (inklusive des Einkaufs). Auslöser für diese Entwicklung sind die mit der Coronakrise einhergehenden Massnahmen (vor allem Lockdowns), welche zahlreiche Unternehmen in finanzielle und operationelle Engpässe führten. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Allein in der Schweiz wurden innerhalb von nur einem Monat nach Ausbruch der Krise bereits 15 Milliarden Schweizer Franken an Überbrückungskrediten zur Sicherung der Liquiditätsbedürfnisse und Aufrechterhaltung des normalen Geschäftsbetriebs bezogen.

Zahlungszielverlängerungen liegen im Trend
Um ausbleibenden oder verzögerten Zahlungseingängen entgegenzuwirken, haben viele Unternehmen versucht, ihre Zahlungsziele mit Lieferanten, den durchschnittlichen Kreditorenumschlag, zu verlängern oder neu zu verhandeln. Die Studienergebnisse zeigen, dass sich die Anzahl überfälliger Rechnungen bereits im März und April europaweit um 70 Prozent erhöhte. Mögliche negative Auswirkungen auf die Zulieferer wurden entweder gar nicht oder nur unzureichend berücksichtigt – insbesondere drohende Insolvenz- oder Liquiditätsrisiken von KMU-Zulieferern.

SCF-Unternehmen stehen deutlich besser da
Die Studie legt dar, dass jene Unternehmen, die ihre Liquidität kooperativ mit Kunden und Lieferanten unter Einbezug von SCF-Lösungen sichern, deutlich besser dastehen. Konkret zeigt sich, dass im branchenübergreifenden Durchschnitt die sogenannten «SCF-Unternehmen» einen durchschnittlich 28 Tage kürzeren Cash-to-Cash Cycle erzielen und eine 40 Prozent höhere Rendite auf das eingesetzte Kapital ausweisen als ihre Wettbewerber.

Der Markt gleicht einem Kooperationswettbewerb
Der Markt für SCF-Lösungen gleicht einem Kooperationswettbewerb und hat in den letzten Jahren deutlich an Schwung gewonnen und wird gemäss den Studienteilnehmern in den nächsten fünf Jahren weiter an Dynamik gewinnen. Hieran wird die Covid-19-Krise voraussichtlich nichts ändern. Die Studienergebnisse verdeutlichen, dass vor allem Banken und FinTechs verstärkt miteinander kooperieren und gemeinsam auf dem Markt auftreten. Des Weiteren ist eine zunehmende Anzahl an Multi-Konsortialprojekten zwischen mehreren Banken und Technologieunternehmen festzustellen, die nicht nur die Digitali-
sierung der Zahlungsabwicklungsprozesse, sondern insbesondere auch den erleichterten Zugang zu Working-Capital-Finanzierungen für Unternehmen in den Mittelpunkt stellen.

Regulatorische Aspekte sind das grösste Hindernis
Aus der Befragung geht hervor, dass das vielschichtige Vertragswesen, die anspruchsvollen rechtlichen Rahmenbedingungen sowie die Unsicherheit über die «Reklassifizierung» von Verbindlichkeiten aus Lieferung und Leistung die Verbreitung von SCF-Lösungen am stärksten behindern. Die bilanzielle Behandlung von Supply Chain Finance ist insbesondere deshalb mit Unsicherheiten behaftet, weil die Einschaltung von Finanzdienstleistern in die Lieferanten-Abnehmer-Beziehung die Substanz von Verbindlichkeiten (beispielsweise hinsichtlich Art, Höhe oder Zeitpunkt der Bezahlung) so weit verändern kann, dass eine «Reklassifizierung» unausweichlich wird (z.B. Bilanzierung der Verbindlichkeiten als Schuld).

Handlungsempfehlungen
Zusammenfassend lassen sich aus den Studienergebnissen folgende Handlungsempfehlungen ableiten:

  • Agieren Sie vorausschauend, um Ihre kurz- und langfristigen Liquiditätsbedürfnisse abzusichern und zusammen mit Kunden und Lieferanten in der Supply Chain gebundene Liquidität freizusetzen.
  • Nutzen Sie dazu SCF-Lösungen wie Reverse Factoring oder Factoring als flexible Instrumente. Diese helfen Ihnen dabei, die unterschiedlichen Interessen und Zielsetzungen entlang des unternehmensübergreifenden Wertschöpfungsprozesses zwischen Kunden, Lieferanten und externen Dienstleistern auszugleichen.
  • Berücksichtigen Sie die Folgen unternehmerischer Entscheidungen sowohl für das eigene Unternehmen als auch für die Supply-Chain-Partner. Nur so können Ihre Liquiditätssteuerung und -sicherung langfristig erfolgreich sein.
  • Berücksichtigen Sie bei Zahlungszielverhandlungen nicht nur die strategische Relevanz der Lieferanten- beziehungsweise Kundenbeziehungen, sondern insbesondere auch Insolvenz- und Liquiditätsrisiken, die ausserhalb der eigenen Unternehmensgrenzen liegen.


Schlussbetrachtung
Die aktuelle Coronakrise zeigt, weshalb die Steuerung des WCMs eine Daueraufgabe darstellt und einer langfristigen, strategischen Verankerung im Unternehmen bedarf. Die Working Capital Management Studie 2020 zeigt auf, wie Unternehmen auch in turbulenten Zeiten zahlungsfähig und schuldenfrei bleiben können.

Uternehmensübergreifende, auf Kooperation ausgelegte WCM-Ansätze liegen im Trend und können auch kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) zu einer verbesserten Handlungsposition mit Investoren und Kapitalgebern verhelfen. Die Ansätze des Supply Chain Finance können gerade in angespannten Krisenzeiten zum entscheidenden Differenzierungskriterium avancieren. (procure.ch/mc)

*Erik Hofmann ist Direktor am Institut für Supply Chain Management sowie Titularprofessor der Universität St. Gallen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem im Beschaffungsmanagement sowie im Bereich des Supply Chain Finance.

*Philipp Wetzel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Supply Chain Management (ISCM-HSG) und Projektmanager des Supply Chain Finance-Labs (SCF-Lab) an der Universität St. Gallen (HSG).

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