EZB beschliesst erstmals Negativzinsen – Leitzins sinkt auf 0,15 %

EZB beschliesst erstmals Negativzinsen – Leitzins sinkt auf 0,15 %

EZB-Präsident Mario Draghi. (Foto: EZB)

Frankfurt am Main – Die Europäische Zentralbank (EZB) geht in die Vollen: Um die Euro-Wirtschaft anzukurbeln und zu verhindern, dass der Währungsraum in die Deflation abgleitet, hat sie ein riesiges Lockerungspaket geschnürt. Nicht nur sinken die Leitzinsen auf neue Tiefstände, inklusive eines Strafzinses auf EZB-Bankguthaben. Darüber hinaus wollen die Währungshüter die schwache Kreditvergabe mit einem milliardenschweren Stützungsprogramm anschieben. Die Notenbank sieht zudem weitere Möglichkeiten der Lockerung.

Die Aktienmärkte feierten die Entscheidungen am Donnerstag nur kurz: Der Dax stieg zwar erstmals über die Marke von 10’000 Punkten, im Verlauf lösten sich die Gewinne aber wieder in Luft auf. Zum Handelsende stand bei 9947,83 Punkten noch ein Plus von 0,21 Prozent zu Buche. Der EuroStoxx 50  erreichte im Verlauf bei 3291 Punkten den höchsten Stand seit September 2008 und gewann letztlich 0,90 Prozent auf 3267,05 Punkte. Der SMI stieg zwar mit den Ankündigungen zeitweise über die Marke von 8’700 Punkten, gab die Gewinne aber am späteren Nachmittag wieder vollständig preis und ging mit einem Minus von 0,21 Prozent bei 8’643,28 Punkten aus dem Handel.

Der Euro reagierte zunächst mit kräftigen Kursverlusten, erholte sich jedoch rasch wieder und stieg auf ein Tageshoch. Die Renditen von Staatsanleihen angeschlagener Euroländern gaben unterdessen spürbar nach.

Draghi warnt vor niedriger Inflation
EZB-Präsident Mario Draghi begründete das Programm mit einer möglicherweise zu lange zu niedrigen Inflationsrate. Dies erschwere auch die Anpassung in den Krisenländern der Eurozone. Deflationsgefahren sieht Draghi derzeit allerdings nicht. «Die beschlossen Massnahmen werden dazu führen, dass die EZB mittelfristig ihr Inflationsziel wieder erreichen wird.» Die EZB strebt eine Inflationsrate von knapp zwei Prozent an. Im Mai war die Inflationsrate auf 0,5 Prozent gefallen.

Die EZB senkte ihre Inflationsprognosen für die nächsten Jahre. Die Notenbank rechnet für 2014 bis 2016 mit jeweils geringeren Teuerungsraten. Demnach ist für das laufende Jahr mit einer Preissteigerung von durchschnittlich 0,7 (bisher 1,0) Prozent zu rechnen. Für 2015 wurde die Rate von 1,3 auf 1,1 Prozent verringert. Das Wirtschaftswachstum dürfte laut Draghi holprig verlaufen.

Kreditvergabe soll belebt werden
Wie Draghi sagte, soll die Kreditvergabe an private Haushalte und Unternehmen mit billigem Zentralbankgeld im Volumen von bis zu 400 Milliarden Euro angeschoben werden. Dazu wird mit den Banken eine Reihe von Refinanzierungsgeschäften durchgeführt (Targeted longer-term refinancing operations, TLTROs). Die Laufzeit dieser TLRTOs beträgt vier Jahre. Über das Programm können sich die Banken bis zu sieben Prozent ihrer gegenwärtigen Kreditvergabe an Zentralbankgeld leihen. Die Kosten hierfür errechnen sich aus dem Leitzins zuzüglich 0,1 Prozentpunkten. Darüber hinaus will die EZB den in Verruf geratenen Markt für Kreditverbriefungen wiederbeleben. Sie stellt in Aussicht, «einfache und transparente» ABS (Asset Backed Securities) zu erwerben. Die Absichtserklärung folgt auf eine gemeinsame Initiative der EZB und der Bank of England. Der ABS-Markt war als Folge der Immobilienkrise in den USA auch in Europa eingebrochen, obwohl die Ausfallraten laut EZB und Bank of England diesseits des Atlantiks viel geringer gewesen sind.

Vollzuteilung bis mindestens Ende 2016
Zudem können die Banken im Währungsraum noch länger als bisher auf billiges Geld zählen. Gegen Sicherheiten können sie sich so viel Zentralbankgeld wie gewünscht bis mindestens Ende 2016 besorgen. Bisher war dies bis Mitte 2015 möglich. Diese «Vollzuteilung» war eine Reaktion auf die seit der Finanz- und Schuldenkrise gestörte Funktionsfähigkeit der Interbankenmärkte, auf denen die Geldhäuser überschüssiges Zentralbankgeld handeln.

Ausserdem verzichtet die EZB darauf, überschüssiges Geld aus einstigen Staatsanleihekäufen krisengeschwächter Euroländer dem Bankenmarkt wieder zu entziehen. Unter dem mittlerweile eingestellten «Securities Markets Program» (SMP) hatte die Notenbank zwischen 2010 und 2012 Anleihen von Ländern wie Spanien oder Italien für insgesamt mehr als 200 Milliarden Euro erworben. Um Bedenken zu zerstreuen, dies könnte zu höherer Inflation führen, wurde das mit den Käufen geschaffene Geld wieder aus dem Markt genommen. Als Folge der jetzt beschlossenen Aussetzung erhöht sich die Liquidität am Interbankenmarkt um rechnerisch mehr als 100 Milliarden Euro.

Erstmals negativer Einlagensatz
An der Zinsfront wurde die Notenbank ebenfalls aktiv: Der wichtigste Leitzins, zu dem sich die Banken gegen Sicherheiten für eine Woche Zentralbankgeld leihen können (Hauptrefinanzierungssatz), sinkt um weitere 0,1 Punkte auf ein neues Rekordtief von 0,15 Prozent. Der Einlagensatz, zu dem die Banken normalerweise bei der EZB liegende Guthaben verzinst bekommen, sinkt erstmals ins Negative. Er beträgt nun minus 0,1 Prozent, nach zuvor null Prozent. Damit müssen Banken, die ihr Geld bei der EZB parken, quasi eine Gebühr bezahlen. Der Ausleihungssatz, der den Banken zur Spitzenrefinanzierung dient, sinkt um 0,35 Punkte auf 0,4 Prozent.

Die Auswirkungen eines negativen Einlagensatzes sind höchst ungewiss, weil bisher keine grosse Notenbank so weit gegangen ist. In Europa haben diesen Schritt nur die schwedische und die dänische Notenbank gewagt. Die Resultate sind nach Meinung von Experten aber nur sehr eingeschränkt auf den Euroraum übertragbar. Grundsätzlich denkbar sind eine Schwächung des starken Euro oder eine Ausweitung der schwachen Kreditvergabe durch die Banken. Auf der anderen Seite könnten die Geldhäuser die Kosten des Negativzinses auch an ihre Kunden weitergeben, was zu steigenden Zinsen oder einer geringeren Kreditvergabe führen könnte.

Das Lockerungspaket wurde laut Draghi einstimmig beschlossen. Damit hat auch der eher kritische Bundesbankchef Jens Weidmann die Entschlüsse mitgetragen. Die Notenbank sieht sich auch keineswegs am Ende ihrer Massnahmen. «Sind wir am Ende unserer Möglichkeiten angelangt? Die Antwort ist nein», sagte Draghi. «Breit angelegte Anleihekäufe gehören zu möglichen Optionen für die EZB.» Dieses von anderen grossen Notenbanken angewendete Instrument ist in der Eurozone umstritten, da es sich um Staatsfinanzierung handeln könnte. Draghi gab auch keine Hinweise, wie eine derartige Quantitative Lockerung (QE) aussehen könne.

Keine weitere Zinssenkung erwartet
Weitere Zinssenkungen sind laut Draghi jedoch kaum möglich: «Der untere Rand ist heute erreicht.» Allerdings seien weitere kleinere «technische» Anpassungen möglich. Der Leitzins könnte aber für einen noch längeren Zeitraum als bisher gedacht niedrig bleiben . Draghi verzichtete indes darauf, dieses Zinsversprechen («Forward Guidance») zeitlich näher einzugrenzen. (awp/mc/pg)

EZB

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