Blutiges Patt in der Ukraine: Militärische Ziele scheinen nach einem halben Jahr Krieg fern

Blutiges Patt in der Ukraine: Militärische Ziele scheinen nach einem halben Jahr Krieg fern

Kiew / Moskau – Nach sechs Monaten Krieg gegen die Ukraine kommen die russischen Truppen nur im Kriechgang voran – und müssen auch spektakuläre Gegenschläge hinnehmen. So kann sich Präsident Wladimir Putin den Kriegsverlauf nicht gedacht haben, als seine Panzertruppen am 24. Februar die Grenze überschritten. Binnen Stunden änderte sich das sicherheitspolitische Gefüge in Europa: Die Nato aktivierte noch am selben Tag Verteidigungspläne für Osteuropa, EU-Sanktionspakete wurden beschlossen und dann auch eine «Zeitenwende» mit 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr.

Regierungen und Militärexperten, die der Ukraine zu Beginn eine Niederlage binnen weniger Wochen vorhersagten, lagen gewaltig daneben. Inzwischen gleicht die Situation einem blutigen Patt. Daraus könnte – so sagen es Diplomaten – ein Krieg werden, der noch Jahre dauert, mit weiteren schweren Grausamkeiten und schlimmen Verbrechen an der Zivilbevölkerung.

Grosse Verluste auf beiden Seiten
Die ukrainische Militärführung berichtete am Montag von 9000 getöteten Soldaten in den eigenen Reihen. Beobachter gehen mit Blick auf frühere Äusserungen aus Kiew allerdings von deutlich höheren Zahlen aus. Bei den russischen Streitkräften soll es nach ukrainischen Angaben schon mehr als 45 000 Tote geben. Überprüfbar ist das nicht. Moskau selbst macht schon lange keine Angaben mehr zu seinen Verlusten.

Selenskyj macht seinem Land Hoffnungen
Und die russischen Einheiten kommen kaum voran. Sie verhinderten bei Vorstössen in ukrainisch kontrollierte Gebiete nicht, dass sich die Verteidiger neu gruppieren, wie Militärexperten des Institute for the Study of the War aus den USA bilanzieren. Und: «Die russischen Kräfte werden wahrscheinlich weiterhin nicht genug Ressourcen für einzelne Offensiven bereitstellen können, wie sie für bedeutsame Gebietsgewinne nötig sind, aus denen einen operativer Erfolg wird.»

Die vom Westen mit Milliarden und schweren Waffen unterstützte Führung in Kiew stellt der Bevölkerung eine Vertreibung der russischen Angreifer in Aussicht. «Wir haben die russische Armee aus den nördlichen Gebieten verjagt. Wir haben die Besatzer von unserer Schlangeninsel vertrieben. Sie spüren bereits, dass es Zeit ist, aus Cherson und überhaupt aus dem Süden unseres Staates zu verschwinden», versprach Präsident Wolodymyr Selenskyj Mitte August. «Es wird die Zeit kommen, dass sie aus dem Gebiet Charkiw verschwinden, aus dem Donbass, von der Krim …»

Trotzdem musste auch Selenskyj zugeben, dass inzwischen rund 20 Prozent des Staatsgebiets – die Krim eingeschlossen – nicht mehr unter ukrainischer Kontrolle stehen. Aus dem Kreml kommen unverändert Behauptungen, alles laufe nach Plan. Die Ziele der «militärischen Spezialoperation», wie der Krieg in Russland offiziell nur heisst, würden in vollem Umfang erreicht. «Ohne Zweifel.» Was genau die Ziele sein sollen, ist aber auch vielen Russen nicht mehr klar. Die Sanktionen setzen ihrer Wirtschaft schwer zu. Die Nato, die zurückgedrängt werden sollte, ist stattdessen auf dem Vormarsch: Finnland und Schweden kommen nun auch in die Militärallianz.

Sieht so «Befreiung» aus?
Die grosse Mehrheit der Russen blendet den Krieg aus. Putin spricht als Oberbefehlshaber immer wieder vom Ziel der «Befreiung» des Donbass. Die Bilder von Tod und Zerstörung, die auch viele Russen trotz gesperrter Internetseiten und Zensur in den Staatsmedien kennen, lassen aber am Sinn der Invasion zweifeln. Zum Donbass gehören das Gebiet Luhansk, das die Ukraine nicht mehr kontrolliert, und die Region Donezk, wo Moskau seit Wochen ohne merklichen Fortschritt nach Einschätzung unabhängiger russischer Experten bisher etwas über 60 Prozent des Gebiets erobert hat.

Was aber mit den eroberten Teilen der Gebiete Cherson, Charkiw und Saporischschja geschehen soll, dazu gibt es keine klaren Ansagen des Kremls. Diskutiert werden immer wieder «Volksabstimmungen» über einen Beitritt zu Russland, ohne dass es ein Datum gibt. Die ganze «Operation» liegt nach einer Analyse des Experten Andrej Perzew deutlich hinter Zeitplan. Moskau schätze die Lage immer wieder falsch ein. «Im Kreml hoffen sie, dass die russischen Streitkräfte bis Dezember/Januar das Donezker Gebiet doch noch komplett einnehmen, ohne dabei die Kontrolle über die schon okkupierten Territorien zu verlieren», schrieb Perzew für das Internetportal Meduza.

Für Russland läuft nichts, wie es sollte
Russische Abgeordnete und Militärs betonen zwar, dass der gesamte Süden abgetrennt werden solle – also auch die Hafenstadt Odessa. Der Kreml bestätigt das aber nicht. Durch einen russischen Korridor bis zur Ex-Sowjetrepublik Moldau verlöre die Ukraine den Zugang zum Schwarzen Meer und würde zum Binnenland. Aber selbst vielen Russen ist klar, dass nichts läuft, wie es sollte. Zwar plakatieren Städte und Regionen Aufrufe, sich sogenannten Freiwilligenbataillonen anzuschliessen. Aber der personelle Nachschub für die Front kommt nicht zusammen, wie selbst russische Zeitungen offen schreiben. Zudem wehren sich Angehörige der Sicherheitsorgane bisweilen auch vor Gericht dagegen, in den Krieg zu ziehen.

Rekrutierung im Gefängnis
Dabei locken für russische Verhältnisse vergleichsweise hohe Monatseinkommen von 100 000 Rubel (rund 1700 Euro) und mehr. Auch in Gefängnissen wird rekrutiert – mit dem Versprechen eines späteren Lebens in Freiheit. Immer wieder gibt es Berichte, wonach etwa der von den USA zur Fahndung ausgeschriebene und auch von der EU mit Sanktionen belegte Geschäftsmann Jewgeni Prigoschin in den Straflagern auf Suche nach Kämpfern geht. Der Mann mit gutem Draht zu Putin gilt als Finanzier der international tätigen Söldnergruppe «Wagner», die für viele Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht wird.

Nach einem halben Jahr sieht auch das russische Internetportal Meduza in einer grossen Analyse eine Pattsituation. «Die Kampfhandlungen sind in der Sackgasse, aber ein Einfrieren des Konflikts ist weder für Moskau noch für Kiew von Vorteil.» Niemand wolle nachgeben und Verlierer sein. «Ihre politischen Ziele bringen beide Seiten dazu, ihren Einsatz zu erhöhen für einen noch grösser angelegten Krieg.»

Putin hatte zuletzt auch gesagt, dass Russland noch nicht einmal richtig losgelegt habe. Die grosse Mehrheit der Russen ist überzeugt, dass er alles tut, um eine Niederlage zu verhindern. Durch eine Generalmobilmachung könnte der Kremlchef aus der «Militäroperation» einen auch für Russland richtigen Krieg machen, den er dann auch so nennen müsste. Die Sorge, er könne eine Eskalation mit den Nato-Staaten im Baltikum suchen, hat sich bisher aber nicht bestätigt.

Das Bündnis sei kaltstartfähig und verteidigungsbereit, sagte kürzlich der deutsche Generalleutnant Jürgen-Joachim von Sandrart, Kommandierender General der Nato-Bodentruppen in Nordosteuropa und damit auch zuständig für die Grenzgebiete zu Russland, Belarus und der Ukraine. «Die Prozesse sind festgelegt. Wenn es zu einem Angriff kommt, wird sofort militärisch reagiert», erläuterte Sandrart in einem Videointerview der Bundeswehr. «Und jeder Angriff wird sofort militärisch beantwortet und auch zurückgeschlagen.» (awp/mc/pg)

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