Offene Fragen nach Anschlag mit mehr als 130 Toten bei Moskau

Offene Fragen nach Anschlag mit mehr als 130 Toten bei Moskau
Rettungs- und Löschdienste im Einsatz am Freitagabend nach dem verheerenden Anschlag auf Konzertbesucher in der Crocus City Hall in der Stadt Krasnogorsk.

Moskau – Nach einem der schwersten Terroranschläge der russischen Geschichte mit mehr als 130 Toten sind weiter viele Fragen nach Tätern, Hintermännern und Motiven offen. Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) veröffentlichte am Samstag verpixelte Fotos der angeblichen Attentäter, nachdem sie bereits am Freitagabend den Angriff auf die Konzerthalle Crocus City Hall für sich reklamiert hatte. Kremlchef Wladimir Putin hingegen behauptete nach der Festnahme mehrerer Männer, es gebe eine Spur, die in die Ukraine führe. Auch russische Propagandisten sparten nicht mit unbelegten Schuldzuweisungen in Richtung Ukraine, gegen die Russland seit mehr als zwei Jahren einen brutalen Angriffskrieg führt. Kiew wiederum hat eine Beteiligung klar zurückgewiesen.

Der Tag nach dem grausamen Verbrechen in der Stadt Krasnogorsk nordwestlich von Moskau ist grau und trübe. Vor der Konzerthalle, die bis vor kurzem ein beliebter Veranstaltungsort für russische Hauptstädter war, patrouillieren schwer bewaffnete Sicherheitskräfte. Immer wieder fällt leichter Nieselregen. Mehrere Überlebende sind am Samstag zur Crocus City Hall zurückgekehrt, um zu trauern und Blumen abzulegen. Auf Leuchttafeln flackert anstelle von Werbung die Aufnahme einer Kerze und darunter die Aufschrift: «Wir trauern. 22.03.2024.»

Als die bewaffneten Angreifer den Konzertsaal stürmten, habe sie gerade mit ihrem Mann auf einer der oberen Besuchertribünen gestanden, erzählte die 30 Jahre alte Margarita. «Wir wollten ein Erinnerungsfoto machen.» Im ersten Moment habe sie die Explosionsgeräusche für lauten Begrüssungsapplaus für die Künstler gehalten, erinnerte sie sich. «Aber es knallte weiter. Da habe ich sofort verstanden, dass etwas nicht stimmt.»

Die Zahl der Toten bei dem Anschlag stieg am Samstag auf mindestens 133, unter ihnen mindestens 3 Kinder. Beim Wegräumen der Trümmer in der Konzerthalle des Zentrums hätten Einsatzkräfte weitere Leichen gefunden, teilte das Moskauer Ermittlungskomitee mit. Ausserdem gingen die Behörden von mehr als 100 Verletzten aus. Die Suche nach möglichen weiteren Opfern dauere an, hiess es. Elf Verdächtige wurden festgenommen, mindestens vier von ihnen seien direkt an dem Angriff auf das Veranstaltungszentrum beteiligt gewesen, sagte FSB-Chef Alexander Bortnikow.

Putin: Fenster für Grenzübertritt der Täter in die Ukraine vorbereitet
Russlands Präsident Wladimir Putin sprach in einer vom Staatsfernsehen übertragenen Rede am Samstagnachmittag von einer angeblichen Verwicklung der Ukraine in den Terroranschlag. Mit Blick auf vier der festgenommenen Männer sagte er: «Sie haben versucht, sich zu verstecken und haben sich in Richtung Ukraine bewegt, wo für sie ein Fenster für einen Grenzübertritt vorbereitet worden war.» Zuvor hatte Russlands Inlandsgeheimdienst FSB bereits über Festnahmen in der Grenzregion Brjansk berichtet.

Die Ukraine, gegen die Russland seit mehr als zwei Jahren einen brutalen Angriffskrieg führt, hat Gerüchte über eine Beteiligung deutlich zurückgewiesen. Der ukrainische Militärgeheimdienst konterte Putin und wies darauf hin, dass die Grenze seit langem vermint sei. Weiterhin gibt es ein Bekennerschreiben der Terrormiliz Islamischer Staat, das von mehreren Experten bereits als echt eingestuft wurde. Trotzdem sind weiter viele Fragen offen. Russische Propagandisten wiederum behaupteten recht schnell, dass hinter dem blutigen Verbrechen die Ukraine stecke. Beweise dafür legten sie nicht vor.

Die Geheimdienste der USA und anderer westlicher Länder hatten bereits Anfang März vor einem drohenden Anschlag gewarnt. Die US-Botschaft in Moskau schrieb am 7. März, sie verfolge Berichte, wonach Extremisten unmittelbar bevorstehende Pläne haben, grosse Versammlungen in Moskau anzugreifen, darunter auch Konzert. Sie forderte Landsleute auf, Menschenmengen zu vermeiden und sich auch sonst achtsam zu verhalten.

Putin tat die Warnungen als westliche Provokation ab. Ziel solcher Warnungen des Westens sei es, die Lage in Russland zu destabilisieren, behauptete er Anfang der Woche bei einer Rede beim FSB.

Der IS-Propagandakanal Amak veröffentlichte am Samstag ein Bild mit vier Personen, deren Gesichter unkenntlich gemacht worden waren. Die Kämpfer hätten bewaffnet mit Sturmgewehren, Pistolen und Bomben Russland einen «schweren Schlag» versetzt, hiess es in der Mitteilung. Der Angriff habe «Tausenden Christen in einer Musikhalle» gegolten. Der IS bekämpft Anhänger des Christentums und betrachtet sie als Ungläubige.

Die russischen Ermittler haben sich dazu allerdings nicht geäussert. Nicht gesichert sind Berichte, dass es sich bei den mutmasslichen Tätern um Staatsbürger der zentralasiatischen Ex-Sowjetrepublik Tadschikistan handeln soll. Die in ihrem Fluchtauto gefundenen Pässe könnten gefälscht sein. Tadschikistan, das an Afghanistan grenzt, ist bekannt als ein Rückzugsort islamistischer Terroristen.

Bisher waren schwere IS-Anschläge auf russische Ziele selten. Seit einigen Jahren haben die Islamisten jedoch auch Moskaus Politik auf dem Radar. Vor allem Russlands Militäreinsatz in Syrien ist der Gruppe laut Experten ein Dorn im Auge. Putin zählt als wichtigster Verbündeter des syrischen Herrschers Baschar al-Assad. Nach Ausbruch des Bürgerkriegs hatte der IS zwischen 2014 und 2017 weite Teile im Osten Syriens und Nordirak beherrscht. Ein regionaler Ableger der Terrormiliz ist zudem im Kaukasus aktiv, in Russland vor allem in den mehrheitlich muslimischen Republiken Dagestan und Tschetschenien. Global hat der IS seine Sympathisanten immer wieder zum Kampf gegen Nichtmuslime aufgerufen.

Immer wieder schwere Terroranschläge
In Russland ist es in der Vergangenheit immer wieder zu schweren Terroranschlägen gekommen. Im September 2004 endete ein Geiseldrama in einer Schule in Beslan (Nordossetien) mit 360 Toten. Tschetschenische Rebellen hatten ausserdem im Oktober 2002 in einem Moskauer Musicaltheater mehr als 800 Geiseln genommen. Bei der Befreiungsaktion starben 129 Geiseln und rund 40 Terroristen. Im Herbst 1999 wurden bei mehreren tschetschenischen Bombenanschlägen auf Wohnhäuser in Dagestan mehr als 300 Menschen getötet.

Der Anschlag nun auf die Crocus City Hall wurde international verurteilt. Der französische Präsident Emmanuel Macron schrieb auf Twitter, Frankreich verurteile den Terroranschlag aufs Schärfste. Er bekundete seine Solidarität «mit den Familien der Opfer, den Verletzten und dem russischen Volk.» Auch die Bundesregierung verurteilte «den schrecklichen Terrorangriff auf unschuldige Konzertbesucher in Moskau. Unsere Gedanken sind mit den Angehörigen der Opfer und allen Verletzten», schrieb Bundeskanzler Olaf Scholz am Samstag auf der Plattform X (ehemals Twitter).

Die überlebende Margarita wirkte gefasst, aber auch sichtlich mitgenommen, als sie noch weitere Details von dem Anschlag erzählte. Nachdem sie und ihr Mann nach einem Spiessrutenlauf durch Korridore und unter Gewehrfeuer in einem unteren Geschoss in einem dunklen Raum angekommen seien, womöglich einem Lager, hätten sie ein Schild mit der Aufschrift «Ausgang» entdeckt – und sich ins Freie retten können. Putin hat nach dem Terroranschlag für diesen Sonntag einen nationalen Trauertag für Russland angesetzt. (awp/mc/ps)

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