Schwere Kämpfe um Sjewjerodonezk

Schwere Kämpfe um Sjewjerodonezk
Rauch über einer Raffinerie im Ballungsraum Sjewjerodonezk.

Kiew / Den Haag – Im Osten der Ukraine gehen die Kämpfe um die strategisch wichtige Stadt Sjewjerodonezk in die entscheidende Phase. In der früheren Grossstadt mit einst 100’000 Einwohnern rückten die russischen Truppen am Dienstag immer weiter vor. Falls sie fällt, wäre dies ein wichtiger Erfolg für Moskau. Nach fast 100 Tagen Krieg ermittelt die Ukraine inzwischen in mehr als 15 000 Fällen wegen Kriegsverbrechen. Die Europäische Union verständigte sich darauf, die Sanktionen gegen Moskau nochmals zu verschärfen. Die Einfuhr von russischem Öl ist nun weitgehend verboten. Ein zusätzlicher Boykott von Gas ist aber nicht in Sicht.

Der ukrainische Generalstab meldete «Sturmaktivitäten im Bereich der Ortschaften Sjewjerodonezk und Toschkiwka». Weitere russische Bodenangriffe werden aus dem westlicher gelegenen Raum Bachmut gemeldet. Die Angriffe bezwecken offenbar, den letzten von der Ukraine gehaltenen Ballungsraum in der Region Luhansk, Sjewjerodonezk-Lyssytschansk, abzuschneiden und so die dort stationierten Truppen aufzureiben. Nach Einschätzung britischer Geheimdienste geht Moskau damit allerdings das Risiko ein, in anderen besetzen Gebieten die Kontrolle wieder zu verlieren.

Einstige Grossstadt Sjewjerodonezk fast entvölkert
Im Ballungsraum Sjewjerodonezk-Lyssytschansk lebten vor dem Krieg 380’000 Menschen. Inzwischen ist vor allem Sjewjerodonezk entvölkert. Nach ukrainischen Angaben sind dort mehr als zwei Drittel der Wohnhäuser zerstört. Russische Luftwaffe und Artillerie bombardieren seit Wochen die Stadt, um eine Bodenoffensive vorzubereiten. Die Eroberung hätte für Moskau nach dem Rückzug der eigenen Truppen vor Kiew grosse symbolische Bedeutung, um die «Befreiung der Region Luhansk» verkünden zu können. Moskau hat die beiden selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk bereits als unabhängige Staaten anerkannt. Ihre Einnahme zählt zu Russlands Kriegszielen.

Internationale Helfer sorgen sich um verbliebene Zivilisten in Sjewjerodonezk. «Wir befürchten, dass bis zu 12’000 Zivilisten in der Stadt im Kreuzfeuer gefangen sind, ohne ausreichenden Zugang zu Wasser, Lebensmitteln, Medikamenten oder Strom», teilte die Hilfsorganisation Norwegian Refugee Council mit. «Wir können im Granatenhagel keine Leben retten», so Generalsekretär Jan Egeland. Er forderte unverzüglich Zugang, um Zivilisten zu helfen.

Ukraine ermittelt wegen Tausenden Kriegsverbrechen
Den Angriff auf das Nachbarland hatte Moskau am 24. Februar begonnen. Die ukrainische Staatsanwaltschaft hat nach eigenen Angaben in mehr als 15’000 Fällen von Kriegsverbrechen eingeleitet. Insgesamt seien 80 Verdächtige in Gewahrsam, teilte Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa in Den Haag mit. Mehr als 600 Verdächtige – darunter hochrangige russische Politiker und Offiziere – seien im Visier der Behörden. Täglich kämen 200 bis 300 neue Fälle hinzu.

In Den Haag hatten zuvor Ankläger der Ukraine, Polen, Litauen und des Internationalen Strafgerichtshofes über den Stand der Ermittlungen zu mutmasslichen Kriegsverbrechen beraten. Die Anklagevertreter gehören einem gemeinsamen Ermittlerteam an. Auch Lettland, Estland und Slowakei sind inzwischen mit von der Partie. Die Arbeit wird von der EU-Justizbehörde Eurojust koordiniert.

In der Ukraine wurden zwei gefangen genommene russische Soldaten wegen Kriegsverbrechen zu langen Haftstrafen verurteilt. Ein Gericht im Gebiet Poltawa verhängte jeweils elfeinhalb Jahre Gefängnis, wie das Online-Portal «Ukrajinska Prawda» berichtete. Die beiden Soldaten hatten demnach gestanden, in der Region Charkiw zivile Gebäude beschossen zu haben. (awp/mc/ps)

Leichenfund in Fabrik Azovstal
In der Hafenstadt Mariupol fand das russische Militär nach eigenen Angaben in unterirdischen Bunkern der monatelang umkämpften Fabrik Azovstal 152 Leichen von ukrainischen Kämpfern. Die Stadt im Süden der Ukraine, in der vor dem Krieg 440’000 Menschen lebten, wurde im Krieg fast völlig zerstört. Die ukrainischen Verteidiger, von denen ein Teil zum rechtsextremistischen Asow-Regiment zählte, verschanzten sich nach schweren Rückzugsgefechten schliesslich im Stahlwerk Azovstal, ehe sich Mitte Mai die letzten Soldaten dort ergaben. (awp/mc/ps)

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