Gery Colombo, Mitgründer und CEO Hocoma

Gery Colombo, Mitgründer und CEO Hocoma

Gery Colombo, Mitgründer und CEO Hocoma. (Foto: Hocoma)

von Patrick Gunti

Moneycab: Herr Colombo, Hocoma entwickelt und produziert automatisierte Therapielösungen für die Behandlung von neurologischen Patienten mit Bewegungsstörungen. Wie können wir uns die Neurorehabilitation vorstellen, wie sie mit Lösungen der Hocoma AG möglich ist?

Gery Colombo: Heute wissen wir, dass das Gehirn die fantastische Eigenschaft hat, sich durch Umorganisation an veränderte Bedingungen anzupassen (Anm. d. R. Neuroplastizität). Das heisst, Synapsen, Nervenzellen oder auch ganze Hirnareale können sich neu strukturieren und die „Aufgabe“ von verletzten Bereichen des Gehirns, z.B. nach einem Schlaganfall, übernehmen. Ermöglicht wird diese Regeneration – und damit auch die Rückgewinnung von motorischen Fähigkeiten – durch  intensives repetitives Training. Unsere Geräte basieren auf diesen Erkenntnissen und ermöglichen genau die erforderliche intensive Therapie mit vielen Wiederholungen, die manuell einfach nicht möglich ist. Hinzu kommt bei allen Geräten die Möglichkeit des Trainings in einer virtuellen Umgebung, das den Patienten motiviert und direktes Feedback gibt – unser sogenanntes Augmented Performance Feedback.

Zusätzlich zu den Geräten für Patienten mit Hirnverletzungen, die vorwiegend in Spitälern und Rehaeinrichtungen eingesetzt werden, bieten wir seit diesem Jahr auch das Rückentherapiegerät Valedo für die Heimanwendung an. Der Valedo hilft Rückenschmerzpatienten mit innovativer Sensortechnologie und motivierenden Übungen den unteren Rücken zu trainieren und langfristig zu stärken. Auch hier wird Augmented Performance Feedback eingesetzt um den Benutzer zu motivieren und ihm gleichzeitig aufzuzeigen ob er die Bewegungen richtig ausführt.

Der Ursprung des Unternehmens geht auf die Entwicklung  eines automatisieren Laufbandtrainings zurück, an dessen Ende der erste Gangroboter Lokomat entstand. Wie kamen Sie vor gut 20 Jahren auf die Idee?

Ich habe selber mit Betroffenen gearbeitet und erlebt, was es für eine enorme physische Belastung für den Therapeuten ist, die Beine des Patienten manuell am Laufband zu bewegen. Irgendwann dachte ich mir: Das muss man doch auch anders lösen können. So ist die Idee für den Lokomat entstanden. Bis zur Umsetzung hat es dann noch einige Zeit gedauert. Mit unserer Idee waren wir aber dennoch die Ersten auf diesem Gebiet.

«Unzählige unabhängige Studien konnten mittlerweile bestätigen, dass das Training mit dem Lokomat effektiver ist als reine Physiotherapie.»
Gery Colombo, Mitgründer und CEO Hocoma

Der Lokomat wurde stets weiterentwickelt. Welche Möglichkeiten bietet die neueste Generation?

Mit der neuesten Generation des Gangroboters Lokomat hat Hocoma eine Entwicklung auf den Markt gebracht, die dem natürlichen menschlichen Gangbild noch näher ist als bisher, welche für Schlaganfallpatienten optimiert ist und sie somit ideal beim Wiedererlernen des eigenständigen Gehens unterstützt.  Mit dem Modul „FreeD“ können  die natürlichen Hüftbewegungen in das Gangtraining integriert werden. Durch diese zusätzlichen motorischen Aspekte und erweiterte Freiheitsgrade verhilft der Lokomat mit FreeD insbesondere Patienten in der späteren Rehabilitationsphase zu einem noch anspruchsvolleren und effektiveren Gangtraining.

Lokomat®Pro FreeD. (Foto: Hocoma)
Lokomat®Pro FreeD. (Foto: Hocoma)

Neu ist auch das „Challenge Package“ beim Lokomat. Es bietet Übungen in einem virtuellen Umfeld, welche die Motivation und die aktive Beteiligung des Patienten durch kompetitive Elemente und leicht verständliche Highscores nochmals steigern. Die Patienten können in eine spannende Fantasiewelt eintauchen, gegen virtuelle Gegner antreten und den Fokus auf verschiedene Therapieaspekte wie das Timing von Aktivität und Koordination, Bewegungsmuster oder Gangsymmetrie setzen.

Unzählige unabhängige Studien konnten mittlerweile bestätigen, dass das Training mit dem Lokomat effektiver ist als reine Physiotherapie. Um das Ganze mal in Zahlen auszudrücken: Jede fünfte Abhängigkeit beim Gehen nach einem Schlaganfall könnte durch das Training mit elektromechanisch gestützten Geräten, wie z.B. dem Lokomat, verhindert werden.

2007 weitete Hocoma mit dem Armeo-Therapiekonzept sein Geschäftsfeld auf die Rehabilitation der oberen Extremitäten aus. Welches sind die Vorteile des Armeo-Therapiekonzeptes für Arme und Hände?

Das Armeo Therapiekonzept richtet sich an Personen, die an den Folgen eines Schlaganfalls, eines Schädel-Hirn-Traumas oder anderen neurologischen Krankheiten und Verletzungen leiden, die zu einer Beeinträchtigung der Hand- und Armfunktion führen. Es besteht aus einer modularen Reihe von Produkten, die aufeinander aufbauen und darauf ausgerichtet sind, durch intensive, repetitive und aufgabenorientierte Therapieübungen die Wiederherstellung der motorischen Fähigkeiten zu ermöglichen. Das Ergebnis ist ein umfassendes Therapiekonzept, das den unterschiedlichen Bedürfnissen von Patienten und Therapeuten während des gesamten Rehabilitationsverlaufs entspricht, vom Beginn der stationären Therapie bis hin zum Heimgebrauch.

«Unsere Geräte verbessern die Therapieresultate, indem sie hochintensives, individuelles Training in einer motivierenden Umgebung ermöglichen.» 

Wo liegen die Vorteile Ihrer automatisierten Therapiegeräte im Vergleich zu traditionellen Therapieformen wie Physio- oder Ergotherapie – und wo ergänzen sich die beiden Therapieformen?

Wie bereits erwähnt, weiss man heute, dass Aktivitäten des täglichen Lebens durch Wiederholungen und intensives Training geschult und verbessert werden können. Unsere Geräte verbessern somit die Therapieresultate, indem sie hochintensives, individuelles Training in einer motivierenden Umgebung ermöglichen. Die manuelle Therapie stellt eine hohe körperliche Belastung für den Therapeuten dar. Mit Hilfe unserer Geräte können wir eine viel höhere Anzahl an Wiederholungen bei der Therapie ermöglichen und der Therapeut kann sich gleichzeitig ganzheitlich mit dem Patienten beschäftigen und dessen Therapieverlauf überwachen. Die manuelle sowie die robotische Therapie ergänzt sich somit auf der menschlichen Ebene.

Für eine erfolgreiche Therapie braucht es  Therapeuten mit professioneller Erfahrung wie auch Einfühlungsvermögen in die Patienten. Robotik allein macht noch niemanden gesund. Sie kann jedoch einen entscheidenden Einfluss auf die Effizienz und Effektivität der Therapie nehmen.

Auf wirtschaftlicher Seite bieten automatisierte Therapiegeräte auch den Kliniken mit mehreren Geräten einen zusätzlichen Vorteil. In einem geeigneten Setting können z.B. mehrere Patienten gleichzeitig von einem Therapeuten betreut und trainiert werden. Patienten profitieren von längeren Therapieeinheiten und die Klinik kann durch den effizienten Einsatz von Geräten und Personal ihren Return on Investment auf lange Sicht signifikant erhöhen.

Erleichtern Ihre Geräte in erster Linie Therapieformen oder bieten sie auch zusätzliche Trainingsoptionen?

Ja, sie bieten in vielen Fällen auch zusätzliche Optionen. So ist insbesondere bei Schwerstbetroffenen nur eine Therapie mit Unterstützung der Geräte möglich.

Als Sie 1996 zusammen mit Matthias Jörg und Peter Hostettler gründeten, waren Sie Pioniere. Wie präsentiert sich der Markt heute?

Vom Pionier haben wir uns heute zum Marktführer im Bereich der robotischen Rehabilitation entwickelt. Der Markt ist kontinuierlich am Wachsen und robotische Rehabilitation gewinnt immer mehr Akzeptanz als wertvolle Ergänzung und Unterstützung zur manuellen Therapie. Für die nächsten Jahre wird Reha-Robotern ein rasanter Wachstum prognostiziert. (Anm. der Rede, siehe Focus Bericht)

«Für die nächsten Jahre wird Reha-Robotern ein rasanter Wachstum prognostiziert.»

Wer sind Ihre wichtigsten Kunden, wie hoch ist der Exportanteil?

Zu unseren wichtigsten Kunden zählen Kliniken und therapeutische Einrichtungen weltweit. Das können Neuroreha-Kliniken aber auch Physiotherapiepraxen sein. 97 Prozent unserer Geräte gehen an Kunden im Ausland. Hauptzielmärkte sind Europa und USA aber auch Lateinamerika und Asien werden immer wichtiger.

Valedo®. (Foto: Hocoma)
Valedo®. (Foto: Hocoma)

Rückenschmerzen sind zur eigentlichen Volkskrankheit geworden. Dieser will Hocoma nun mit dem Therapiegerät Valedo zu Leibe rücken, und zwar auf spielerische Art. Wie funktioniert Valedo, was ist das Spezielle an diesem High Tech-Medizingerät?

Der Valedo ist auf dem Markt bisher einzigartig. Es ist das erste Rückentrainingsgerät, das therapeutische Übungen mit innovativer, hochpräziser Sensortechnologie und Spielspass  verbindet. Für das Rückentraining werden ganz einfach drahtlose Bewegungssensoren auf Rücken und Brust geklebt. Diese Sensoren übertragen die Bewegungen des Spielers anschliessend in Echtzeit auf das iPad, das heisst, man steuert die Spielfigur mit seinen Körperbewegungen. So kann man mit dem Valedo spielerisch und unkompliziert die Rückenmuskulatur trainieren und seine Bewegungsabläufe verbessern – egal ob zu Hause, im Büro oder auf Reisen.

«Wenn man bedenkt, wie viele von uns bereits unter Rückenschmerzen leiden, dann ist die Anzahl an potentiellen Kunden enorm gross.» 

Mit diesem Therapiegerät wenden Sie sich privaten Konsumenten zu. Wie viel Potenzial sehen Sie darin?

Rückenschmerzen zählen mittlerweile zur Volkskrankheit Nummer 1. Wenn man bedenkt, wie viele von uns bereits unter Rückenschmerzen leiden, dann ist die Anzahl an potentiellen Kunden enorm gross. Viele haben schon einiges ausprobiert um ihre Schmerzen loszuwerden, aber die fehlende Rückmeldung und die Tatsache, dass das Training Zuhause oft als langweilig und zu kompliziert empfunden wird, hält die meisten vom regelmässigen Üben ab. Für genau diese Zielgruppe bietet sich jetzt eine ganz neue Möglichkeit.

Der Anstoss zur Fussball-WM wurde von einem von der Hüfte abwärts gelähmten Teenager ausgeführt. Ein gedankengesteuertes Exoskelett machte dies möglich. Die ETH Zürich wiederum führt 2016 den Cybathlon durch, bei dem u.a. Menschen mit einer Querschnittlähmung einen Hindernisparcours mittels eines motorisierten Exoskeletts absolvieren sollen. Was halten Sie von solchen Projekten?

Wir halten nicht nur viel davon, wir beteiligen uns sogar. Es ist eine grossartige Möglichkeit, mit Partnern aus dem klinischen Netzwerk eine gemeinsame Sache auf die Beine zu stellen, welche die Chancen moderner Robotik thematisiert. Um nochmals auf die WM zu kommen: Der gelähmte Teenager, welcher den Anstoss während der WM gemacht hat, wurde übrigens vorher auf dem Lokomat trainiert.

Inwiefern helfen solche Projekte der Wissenschaft und Forschung in dem Bereich, in dem Ihr Unternehmen tätig ist?

Durch Projekte wie dieses wird das Thema einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht und gewinnt an Aufmerksamkeit. Davon profitieren schliesslich auch Wissenschaft und Forschung: Sie erhalten Zuschüsse, Forschungsgelder und es entsteht eine höhere Nachfrage nach ihren Entwicklungen.

Welches werden in Ihrem Bereich die nächsten Entwicklungsschritte sein? Wohin führt die rasante Entwicklung von Materialeigenschaften und Technologie?

Wir arbeiten kontinuierlich an der Neu- und Weiterentwicklung von Produkten. Unsere Entwicklungs-Roadmap ist somit in allen Produktgruppen vollgepackt. Ein grosses Augenmerk liegt in nächster Zeit aber sicherlich in der Weiterentwicklung von sensorbasiertem Training, wie z.B. mit dem Valedo.

Wohin die Entwicklung von Materialeigenschaften und Technologie führt, ist schwer zu sagen. Jedoch ergeben sich durch neue Materialeigenschaften und Technologien immer neue Chancen, um diese in einer bestimmten Kombination für unsere Therapiegeräte einzusetzen und einen Mehrnutzen für unsere Kunden zu generieren. Dies ist sehr spannend und macht uns sicherlich auch als Arbeitgeber für innovative Talente attraktiv. Es ist aber auch eine grosse Herausforderung auf die richtigen Trends zu setzen.

Herr Colombo, besten Dank für das Interview.

Zur Person:
Dr. Gery Colombo ist Mitbegründer und CEO der Hocoma AG. Nach dem Studium der Elektrotechnik, wo er sich auf Biomedizinische Technik spezialisiert hat, wurde er Forschungsleiter im Paraplegikerzentrum der Uniklinik Balgrist. Während der Arbeit am Balgrist hatte er die Idee, den Lokomat zu entwickeln und hat zu diesem Thema am Institut für biomedizinische Technik promoviert. Er gründete mit den zwei Freunden Peter Hostettler und Matthias Jörg das Unternehmen Hocoma. Neben seiner Tätigkeit als CEO und Mitglied der Verwaltungsrates der Hocoma, engagiert sich Gery Colombo als Präsident der Internationalen Industrie Gesellschaft für fortschrittliche Rehabilitations-Technologie (IISART) sowie als Vorstand des Industrievereins Volketswil.

Zum Unternehmen:
Hocoma wurde im Jahr 2000 als ein Spin-off der Universitätsklinik Balgrist in Zürich gegründet. Das Unternehmen beschäftigt derzeit an seinem Firmensitz in Volketswil (Schweiz) und in seinen Niederlassungen in den USA, in Singapur und in Slowenien mehr als 160 Angestellte. Hocoma entwickelt und produziert Therapielösungen für die Behandlung von neurologischen Patienten mit Bewegungsstörungen aufgrund von Schlaganfall, Rückenmarkverletzungen, Schädel-Hirn-Trauma, Multipler Sklerose, Cerebralparese oder anderen neurologischen Ursachen sowie Rückenschmerzpatienten. Die Produktpalette umfasst Geräte für die intensivierte Lokomotionstherapie, die funktionelle Therapie der oberen Extremitäten, die Frührehabilitation und Patientenmobilisierung sowie für funktionelle Bewegungstherapie bei unteren Rückenschmerzen. Produkte von Hocoma werden weltweit erfolgreich in Kliniken und Forschungsinstituten eingesetzt. Das Medizintechnik-Unternehmen hat zahlreiche Auszeichnungen für Jungunternehmen erhalten und wurde 2010 mit dem “Red Herring 100 Global Award” als eines der hundert innovativsten Unternehmen weltweit ausgezeichnet. Im Jahr 2012 2013 erwirtschaftete Hocoma einen Umsatz von mehr als 30 Millionen Franken.

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