Thomas Wüst, CEO ti&m, im Interview

Von Helmuth Fuchs
Moneycab: Herr Wüst, ti&m feiert dieses Jahr sein 20-jähriges Bestehen. Mit mittlerweile über 600 Mitarbeitenden an sechs Standorten in drei Ländern (Schweiz, Deutschland, Singapur) – welches Wachstum und welche weiteren Standorte planen Sie für die Zukunft und wie werden Sie es finanzieren (Börsengang, neue Investoren)?
Die Entwicklung von einem kleinen Team im ersten Jahr zu einem KMU mit 600 Mitarbeitenden war sehr spannend und ich freue mich auf die Eröffnung weiterer Niederlassungen und damit auf neue Kunden, Projekte und Mitarbeitende. Für mich als Unternehmer ist Wachstum wichtig, es steht aber nicht an erster Stelle und muss von unseren Werten getragen werden: mit Mut und Leidenschaft wollen wir neue, innovative Massstäbe setzen und ein Umfeld schaffen, in dem Talent, Ideen und Können vor Hierarchie kommen.
«Wir wollen unabhängig bleiben, und weiterhin auf Investoren und auf eine Verlagerung ins Ausland verzichten.» Thomas Wüst, CEO ti&m
Mit diesen Werten und unserem «AI-powered innovation»-Ansatz werden wir unser nachhaltiges Wachstum fortsetzen. Wir wollen unabhängig bleiben und weiterhin auf Investoren und auf eine Verlagerung ins Ausland verzichten. Wir eröffnen Niederlassungen, um vor Ort für unsere Kunden präsent zu sein. Aber natürlich arbeiten Schweizer Mitarbeitende an deutschen Projekten und umgekehrt. Ziel ist es immer, die optimalen Teams zusammenzustellen.
AI-powered innovation?
Unsere Strategie besteht darin, vertikal integriert innovative Produkte und Projekte zu realisieren, Beiträge zur digitalen Souveränität durch Open-Source-Lösungen zu leisten und neue Niederlassungen entlang der Kundenbedürfnisse zu eröffnen. KI ist auf allen Ebenen strategisch und operativ verankert: Einerseits entwickeln wir als Technologiepartner KI-Lösungen für unsere Kunden, andererseits nutzen wir KI intern in der Softwareentwicklung.
«Low-Code-Systeme werden durch AI getriebene No-Code-Systeme ersetzt werden.»
Low-Code-Systeme werden durch AI getriebene No-Code-Systeme ersetzt werden. Durch den Einsatz von KI steigern wir die Qualität und Effizienz in Entwicklungsprojekten und fördern nachhaltig Innovation. Von der Anforderungsanalyse über das Coding bis hin zum Testing – jeder Schritt lässt sich durch KI optimieren. Der Kostendruck nimmt in der Softwarebranche zu. Wir begegnen diesem wie gesagt nicht durch eine Verlagerung ins Ausland, sondern durch eine Effizienzsteigerung durch den gezielten Einsatz von KI.
Welche Unterstützung bieten Sie Ihren Kunden im Bereich KI?
Wir haben für jede Branche eine eigenständige AI Journey entwickelt, die spezialisierte AI Assistants und AI Agents umfasst. Diese Journeys basieren auf einer Vielzahl bereits umgesetzter Lösungen und Implementierungen. Unser Fokus liegt dabei stets auf einem klaren, nachvollziehbaren Mehrwert für unsere Kunden.
Agentic KI wird nach dem Einsatz individueller KI-Lösungen als nächste Entwicklungsstufe der KI bezeichnet. Wie integriert ti&m diese Technologie in seine Produkte und Kundenprojekte, gibt es schon erste Kundenerfahrungen?
In unseren Garagen – so nennen wir agile, mehrwöchige Entwicklungsprojekte, an deren Ende eine marktfähige Lösung, ein sogenanntes Minimal Viable Product steht – entwickeln wir aktuell viele Agentic-AI-Ideen in den Bereichen Trading, Personal Financial Management (PFM) und Security. Beispielsweise steigt auf Kundenseite die Akzeptanz für nachvollziehbare AI Agents, die eine Kreditvergabe automatisiert abwickeln können.
Europa betont die Bedeutung von ethisch verantwortungsvoller KI (EU-AI-Akt), deren Transparenz und Verständlichkeit. Wie stellt ti&m sicher, dass ihre KI-Anwendungen diesen Standards gerecht werden?
In unseren Kundenprojekten sehen wir, wie wichtig ein verantwortungsvoller Umgang und Elemente wie Transparenz und Nachvollziehbarkeit für unsere Kunden sind, ethische Standards sind in jedem Projekt Teil der Anforderungen. Regulierung ist wichtig, man darf allerdings zu Recht fragen, wo diese in der IT jemals erfolgreich war. Der Schutz der Konsumenten und der Wirtschaft darf nicht dazu führen, dass Innovation erstickt wird. Anders ausgedrückt: Man sollte AI nicht zu Tode regulieren, bevor wir effektive Nutzenpotenziale auch umsetzen können. Die Schweiz muss unbedingt sicherstellen, dass wir innovationsfreundlich und offen bleiben und viele Startups und Unternehmen anziehen.
«Der Schutz der Konsumenten und der Wirtschaft darf nicht dazu führen, dass Innovation erstickt wird.»
Die Schweiz ist eine der führenden Nationen in Innovation und Wettbewerbsfähigkeit, aber bei der gesamtheitlichen Digitalisierungsstrategie gibt es Defizite. Wie bewerten Sie die Position der Schweiz im internationalen Wettbewerb um digitale Technologien, was muss getan werden, um hier ebenfalls eine Spitzenposition einzunehmen?
Digitalisierung ist in vielen Bereichen zu einem Plattformgeschäft geworden, das weltweit skalieren muss – die nationale Digitalisierungsstrategie wird daran nichts ändern. Die Schweiz als Staat ist gut beraten, wenn sie sich als Innovationsstandort positioniert und die notwendigen Rahmenbedingungen verbessert.
Sie haben zu Beginn die Werte von ti&m angesprochen: In der immer noch bestehenden Eignerstrategie sind Sie sehr bedacht auf die Kultur und die Werte von ti&m. Wie wollen Sie diese, unabhängig von Ihrer Person, auch in der Zukunft im Unternehmen erhalten?
Wenn ich die Führung des Unternehmens auf die nächste Generation übertragen werde, so vertraue ich darauf, dass sie sowohl die Werte als auch die Gesamtstrategie erfolgreich weiterentwickeln werden. Ein Unternehmen darf nicht stehen bleiben, sondern muss sich, seine Strategien und Wertesysteme laufend weiterentwickeln, denn nur so ist langfristiger Erfolg möglich.
Sie haben ti&m mit dem Ziel gegründet, ganzheitliche digitale Lösungen anzubieten. Wie hat sich diese Vision in den letzten zwei Jahrzehnten entwickelt, was waren die grössten Herausforderungen, die Sie dabei meistern mussten?
Zu Beginn war es schwierig, als Newcomer Vertrauen aufzubauen und als Projekt- und Produktpartner anerkannt zu werden. Die Gesamtverantwortung in Projekten führt zwar zu langfristigen Partnerschaften, aber wir mussten lernen, die damit einhergehenden Risiken gut zu managen. Das gilt analog auch fürs Produktgeschäft, das in der Entwicklung hohe Investitionen fordert und zumeist erst mittelfristig grössere Umsätze generiert. Hinzu kommt das Innovationsrisiko, das bei IT-Produkten sehr hoch ist und dazu führt, dass man ständig weiter investieren muss, will man an der Spitze bleiben.
«Digitalisierung ist in vielen Bereichen zu einem Plattformgeschäft geworden, das weltweit skalieren muss – die nationale Digitalisierungsstrategie wird daran nichts ändern.»
ti&m investiert stark in eigene Produkte, wie die Mobile- und E-Banking-Plattform ti&m Banking, Online-Identifikation, Security Services, Integrationslösungen oder die Open-Source-basierte Business-Intelligence-Lösung Open Datastack, die dieses Jahr lanciert wurde. Dabei setzen Sie auf den Entwicklungsstandort Schweiz, ohne Offshore-Entwicklung. Wie finden Sie die geeigneten Talente und wie sind Sie trotz der hohen Arbeitskosten in der Schweiz konkurrenzfähig?
ti&m ist ein beliebter und attraktiver Arbeitgeber – beispielsweise belegen wir in der diesjährigen Erhebung der besten Arbeitgeber der Handelszeitung den dritten Platz in der Branche «Internet, Telekommunikation und IT». Unser ganzheitlicher End-to-end-Ansatz in der Projektarbeit bietet einen spannenden Arbeitsalltag und die Möglichkeit, neue Technologien kennenzulernen und fachlich und persönlich zu wachsen. Zusammen mit unseren durch Agilität und flachen Hierarchien geprägten Werte, spannenden Weiterbildungsmöglichkeiten und sehr offenen und direkten Unternehmenskultur bieten wir für viele Mitarbeitende ein attraktives Umfeld.
Welche Branchen setzen welche Lösungen am häufigsten ein, wo sehen Sie das grösste Entwicklungspotenzial in den kommenden Jahren?
Im Produktgeschäft sind wir dank des technologisch offensten und modernsten Mobile- und E-Bankings am Markt führend im Bereich Financial Services. Wir erwarten weiterhin eine positive Entwicklung, da viele Banken vor der Ablösung ihrer veralteten Mobile- und E-Banking-Lösungen stehen. Unsere Arbeitsplatzbuchungslösung Places verzeichnet wieder eine steigende Nachfrage, da viele Unternehmen verstärkt auf Büropräsenz setzen. Auch unser KI-gestütztes Onboarding, das bei über 50 Kunden im Einsatz ist, und unsere 2FA-Authentisierungslösung mit knapp 15 Kunden werden stark nachgefragt.
Im für uns sehr wichtigen Projektgeschäft konzentrieren sich die Anfragen vor allem auf KI, Automatisierung, Datenmanagement und Datenstrategien. Zudem sind Selfservice-Lösungen für Endkunden, Consulting und Engineeringprojekte im Securitybereich sowie Cloud-Projekte gefragte Themen.
20 Jahre an der Spitze von ti&m, die Entwicklung vom kleinen Startup zu einem internationalen Unternehmen, ist eine fordernde Aufgabe. Was machen Sie, um nebst der Arbeit abzuschalten und sich zu erholen?
Jeden Morgen gönne ich mir wetterunabhängig ein kurzes Fitnessprogramm und eine Runde auf meinem Bike mit meiner Labradorhündin Neve. Das wirkt Wunder und stimmt mich positiv für den Tag. Wenn Zeit und Musse da sind, gehe ich Surfen, Windsurfen oder Skifahren. Daneben pflege ich mehr schlecht als Recht einen spannenden Freundeskreis, der nichts mit Digitalisierung und Informatik zu tun hat und freue mich stets darauf im Kreise meiner Familie Zeit zu verbringen.
Zum Schluss des Interviews haben Sie zwei Wünsche frei. Welche sind das?
Zufriedene und inspirierte Kunden und Mitarbeitende und das Gelingen der Familiennachfolge.