Barbara Biggs, Schriftstellerin

Von Gérard Al-Fil


Moneycab: Frau Biggs, das Etikett «von der Tellerwäscherin zur Millionärin» trifft auf Sie nicht zu. Wäre «vom Tal der Tränen in die Normalität zu Weltruhm» angemessen?


Barbara Biggs: Das trifft es eher. Mein Tal der Tränen begann im zarten Alter von 14 Jahren, als mich meine Grossmutter an einen 42-jährigen pädophilen Rechtsanwalt verkaufte.


Ihre Grossmutter verkaufte Sie wie eine Ware?


Ja, dieses traumatische Erlebnis meiner Jugend hat mein Leben bestimmt. Ich lief von Zuhause weg, da meine alleinstehende Mutter mit meiner Erziehung und der meiner fünf Geschwister schlichtweg überfordert war. Meine Grossmutter, bei der ich dann wohnte, fragte diesen Rechtsanwalt, ob er für mich eine Arbeit hätte und er willigte ein, mich als Au pair-Mädchen einzustellen.


Aber nur vordergründig…


…, ja, sein Privatleben war zerrüttet. Er war mit einer psychisch labilen Frau verheiratet, die in einer Spezialklinik behandelt wurde. Ich wurde jahrelang von diesem Rechtsanwalt missbraucht und lieferte mich selbst mit 16 in eine Nervenklinik ein. Ausserdem unternahm ich vor meinem 20. Lebensjahr vier Selbstmordversuche. Meine Jugend war «dysfunctional», wenn Sie so wollen.


«Das zweite Werk «The Road Home» beschreibt, wie ich meinen Peiniger mit Ende  30 mit seiner Tat konfrontiert habe ? und wie ich vor Gericht gegen ihn gewann.»
Barbara Biggs, Schriftstellerin


Handelte Ihre Grossmutter gutgläubig?


Nein. Sie wusste durchaus, dass dieser bekante und angesehne Rechtsanwalt sich von Mädchen und Jungen angezogen fühlte.


Bevor wir auf ihre beiden Bücher zu sprechen kommen, die Ihr Erlebtes widerspiegeln: wie haben Sie neue Kraft geschöpft, um nach dem Martyrium, das Sie durchliefen, ein halbwegs normales Leben zu führen?


Neue Kraft schöpfte ich erst wieder, als ich 22 war. Die Wende zum Guten ereignete sich damals, als ich einen Sohn zur Welt brachte. Nur durch diese bedingungslose Liebe, die ich durch mein Kind erfuhr, schaffte ich es, das Geschehene zu begreifen und später die traumatischen Erlebnisse meiner Jugend aufzuarbeiten.


Wie spiegelt sich diese Aufarbeitung in Ihren Autobiographien wider?


Mein erstes Werk mit dem «In Moral Danger» handelt von meiner Kindheit und Jugend bis zum 21. Lebensjahr. Das zweite Werk «The Road Home» beschreibt, wie ich meinen Peiniger mit Ende 30 mit seiner Tat konfrontiert habe ? und wie ich vor Gericht gegen ihn gewann.


In der Zwischenzeit hatten Sie nicht zur Normalität zurück gefunden, sondern es auch zu beträchtlichen Wohlstand gebracht.


Mir widerfuhr später viel Glück, das ich mir aber hart erarbeitet habe. Davon handelt mein zweites Buch «The Road Home», das auf das erste aufbaut.  In «The Road Home» erzähle ich mein Leben in meiner Zeit zwischen 22 und 42 Jahren. Ich begann mit dem Klavierspielen, übte acht Stunden pro Tag auf dem Piano. Das Musizieren war auch eine Art Therapie für meine verletzte Seele. Ich durfte vor dem Alten Konservatorium in Adelaide vorspielen und wurde als Studentin angenommen. Bald gab ich erste Konzerte.


Sie stiegen später ins Immobiliengeschäft ein?


Ja, dies war der Durchbruch zu einem neuen, finanziell besseren Leben. Mit Immobilien verdiente ich meine erste Million. Von Immobilien handelt mein drittes Buch aus dem Jahr 2005 «The Accidental Renovator: A Paris Story». Mein Faible für Grund und Boden kommt daher, dass ich vor der Geburt meines Sohnes ein kleines Stück Land kaufte. Ich hatte ein wenig Geld gespart und wollte ihm ein festes Zuhause geben, weil wir sechs Kinder fast jedes Jahr den Wohnort wechselten. Meinen Sohn wollte ich mit dem von mir erworbenen Grund und Boden den festen Halt in seinen jungen Jahren geben, der mir selbst als Kind so gefehlt hat.


Kindesmissbrauch und Menschenhandel gehören zu den schockierendsten Erscheinungen unserer Zeit. Wie haben Polizei und Behörden damals reagiert, als sie Ihren Fall meldeten oder haben Sie das irgendjemandem sonst anvertraut?


Wie die meisten Opfer sexueller Gewalt im Kindesalter habe auch ich erst nach Jahrzehnten den Mut aufgebracht, das jahrelange Verbrechen zu melden. Ich war Ende 30 als ich mein Martyrium als Kind berichtete. Diese traumatischen Erlebnisse kann man nicht einfach so vortragen. Ich bin jetzt 53. Erst vor fünf Jahren habe ich realisiert, wie sehr meine Beziehungen in den letzten 20 Jahren von dem Missbrauch durch den Rechtsanwalt beeinflusst wurden.


Ist da eine innere Wut, die das Opfer emotional blockiert?


Das möchte man meinen. In Wirklichkeit fühlen sich die Opfer frührer sexueller Gewalt emotional zu ihrem Peiniger hingezogen. Die traf auch auf mich zu. Die Öffentlichkeit möchte natürlich, dass die Opfer ihre Täter hassen. Aber die Täter-Opfer-Bezierung ist viel komplexer. Vergessen darf man nicht, dass die Täter oft nahestehende Verwandte, Freunde der Familie, Lehrer, Vereinstrainer oder dergleichen sind. Auch deshalb ist die Hemmschwelle meist gross, das Geschehene seinem Umfeld anzuvertrauen. Es kann ein soziales Gefüge zum Einsturz bringen


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Wann fanden Sie die Zeit und den Mut, das Erlebte niederzuschreiben?


Als ich Journalistin war. Ich arbeitete von 1989 als Redakteurin für die Herald Sun in Melbourne. Ich habe bemerkt, dass meine Biographie «newsworthy» ist. Zunächst schrieb ich 60’000 Wörter, die ich aber wieder in den Papierkorb warf. Ich benötigte einige Zeit, bis ich von meinem Werk überzeugt war.


War das «coming out» für Sie auch eine Art Therapie?


Auf jeden Fall. Genau wie dieses Gespräch. Jedes Gespräch hilft.


«Etwa neun Zehntel der Täter waren selbst Opfer, Männer wie Frauen. Ihre Attacken auf Pennäler und Pubertierende ist ein Produkt der Brutalität, die sie am eigenen Leib erfuhren.»
Barbara Biggs, Schriftstellerin


Ihr Buch kann Eltern helfen, potenzielle Täter zu identifizieren und Parallelen im familiären Umfeld zu erkennen. Sehen Sie es als ihre Aufgabe, Missbrauchsfälle zu verhindern?


Ja, ich habe es mir zu meiner zweiten Lebensaufgabe gemacht, sexuellen Missbrauch zu verhindern. Allerdings gehe ich mit einem ganz anderen Ansatz an die Problematik heran, als die üblichen Initiativen.


Welchen Ansatz verfolgen Sie konkret?


Die gängigen Therapien kümmern sich fast ausschliesslich um Opfer sexueller Gewalt. Ich gehe mit meiner Initiative «Social Change Foundation» den umgekehrten Weg. Dabei steht an erster Stelle die Frage: wie kann dem Täter oder dem potentiellen Täter geholfen werden. Wenn sich ein Erwachsener emotional oder gar sexuell zu minderjährigen Jugendlichen und Kleinkindern hingezogen fühlt, dann benötigt er Hilfe. Viele Männer, die an dem von mir initiierten Programm  teilnahmen, waren danach unendlich dankbar. Für mein erstes Programm meldeten sie sich. Dabei sind wir ganz offen vorgegangen, haben Flugblätter verteilt. Es meldeten sich im ersten Jahr 86 Herren aller Altersklassen und aus allen sozialen Schichten.


Waren das Vorbestrafte, rückfällige Verurteilte?


Eben nicht. Kein einziger von ihnen war der Polizei bekannt. Einige von ihnen unternahmen Selbstmordversuche, weil sie ihr eigenes Verhalten und Verlangen moralisch dezimiert hatte. Eine häufige Aussage war: «Ich wollte mein Verlangen, das mich selber schockierte und emotional aus der Bahn warf, kontrollieren und in Schach halten. Ich war verzweifelt. Doch niemand bot mir Hilfe an.» Wir haben mit der Initiative in Australien begonnen und verbreiten sie jetzt weltweit.


Wie kann man also potenziellen Tätern und Täterinnen konkret helfen und sie von kriminellen Akten abhalten?


Die Therapie muss lauten, dem potenziellen Täter durch Gespräche zu helfen und ihm Auswege aus dem Teufelskreis zu helfen. Es bringt nichts diese Leute zu dämonisieren, denn dies treibt sie nur weiter in die Isolation. Etwa neun Zehntel der Täter waren selbst Opfer, Männer wie Frauen. Ihre Attacken auf Pennäler und Pubertierende ist ein Produkt der Brutalität, die sie am eigenen Leib erfuhren. Es muss sich jemand ihres inneren Konfliktes professionell annehmen.


Nun hat das Niveau der Werbung und Videoclips ein Niveau erreicht, dass es vor zwanzig Jahren nur in Videotheken für Erwachsene gab. Liefert die «Sex-sells»-Masche nicht einen Nährboden für die besagte Form von Gewalt?


In der Tat. Der Westen kritisiert oft islamische Länder, sie würden den Frauen nicht genug Freiheiten geben. Aber die westlichen Länder selbst lassen es zu, dass ein völlig verzerrtes Bild von der Frau transportiert werden darf. Das ist ein fragwürdiges Freiheitsverständnis. Hier wird das Bild einer verfügbaren, hemmungslosen Frau transportiert. Der Zugang zu Pornographie ist so einfach wie nie. Junge Mädchen denken dann, dass das, was sie sehen, normal sei. In Wahrheit beschädigt es die Familie, die Gesellschaft und das Zusammenleben. Eine Präventionsmassnahme könnte sein, früher mit dem Sexualkundeunterricht in der Schule zu beginnen, vielleicht schon in der Primarschule. Kinder müssen lernen, dass Liebe und Sexualität oft zusammen gehören, aber manchmal eben auch nicht.


Ihr Buch «In Moral Danger», das 2004 und 2005 ein Bestseller in England bzw. Neuseeland wurde, kommt bald auf die Leinwand. Wissen Sie schon wann?


Ja, die Regisseurin Gillian Armstrong, die wie ich Australierin ist, hat mein Buch als Vorlage für ihr Filmprojekt herangezogen. Das Scriptwriting ist in vollem Gange. Voraussichtlich in zwei Jahren wird «In Moral Danger» in die Kinos kommen.


Frau Biggs, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.





Die Interviewpartnerin
Barbara Biggs, 53, wurde durch ihre Bücher «In Moral Danger»  (2004) und «The Road Home» (2005) berühmt. Beide Werke sind Autobiographien, die beschreiben, wie sie als 14-Jährige von einem Rechtsanwalt missbraucht wurde und wie sie zwei Jahrzehnte später vor Gericht gegen ihn gewann.Nachdem ihrem Martyirum als Heranwachsende, begann eine Odyssee, die sie als Flüchtling nach Kambodscha führte. Von dort floh erneut sie kurz bevor die Roten Khmer unter Pol Pot ein kommunistisches «Steinzeit»-Regimme errichteten, dem von 1976 bis 1979 über zwei Millionen Menschen zum Opfer fiehlen. Barbara Biggs  wurde später als Zwangsprostituierte nach  Japan verschleppt. Zurück in Australien begann Sie mit dem Klavierspielen und wurde Konzertpianistin. Ab 1989 arbeitete Biggs für 15 Jahre als Journalistin, u. a. fur die Herald Sun in Melbourne. Während dieser Zeit reifte die Idee zum Buch. «In Moral Danger» wird derzeit von der australischen Regisseurin Gillian Armstrong verflimt. Der Streifen soll 2011/2012 in die Kinos kommen.

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