Jürg Krummenacher, Direktor Caritas Schweiz: «Unsere Hilfe ist viel mehr ist als ein Tropfen auf einen heissen Stein»

von Patrick Gunti


Moneycab: «Ein Zeichen setzen für eine Schweiz, deren Stärke sich am Wohl der Schwachen misst». Tut sie das wirklich?


Jürg Krummenacher: Ja, das tut sie aus meiner Sicht tatsächlich. Die Aktion fand das letzte Jahr zum ersten Mal statt. Die Reaktionen darauf waren sehr erfreulich. Zum einen haben die Medien ausführlich  über die Aktion berichtet. Zum andern waren viele Menschen auch begeistert von den Illuminationen und von der Idee. Im letzten Jahr machten rund 30 Orte mit. In diesem Jahr sind es bereits 62 Orte, in denen die Aktion durchgeführt wird. Zudem findet die Aktion auch in anderen Ländern wie Frankreich, Luxemburg oder Deutschland statt.


Die Aktion und deren Erlös kommt bedürftigen Menschen in der Schweiz und in der 3. Welt zugute. Wie sehr ist das Problem der Armut in der Schweiz, der Working Poor, Jugendarbeitslosigkeit oder von sozialer Ausgrenzung Ihrer Meinung nach im Bewusstsein unserer Gesellschaft?


Das Bewusstsein für die sozialen Probleme ist in den letzten Jahren gestiegen. Als wir zu Beginn der 90 er Jahre darauf hinwiesen, dass die soziale Ungleichheit in unserem Land wächst und immer mehr Menschen aus der Mitte unserer Gesellschaft von Armut betroffen sind, wurde dies teilweise noch in Abrede gestellt. In der Zwischenzeit teilen fast alle diese Einschätzung. Die Armut ist auch auf politischer Ebene zu einem Thema geworden. Und viele Menschen stossen sich daran, dass die Kluft zwischen Reich und Arm immer grösser wird und immer mehr Menschen von der Teilhabe an der Gesellschaft ausgeschlossen werden.


Welche Forderungen haben Sie in diesem Zusammenhang an Politik und Wirtschaft?


Die Armut betrifft heute vor allem Familien mit Kindern. Das darf nicht sein. Prioritär ist deshalb eine aktivere Familienpolitik. Nach dem deutlichen Ja zum Bundesgesetz über die Familienzulagen braucht es dringend Massnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und ein Bundesgesetz für Ergänzungsleistungen für einkommensschwache Familien, wie wir es für die AHV und IV kennen. Darüber hinaus braucht es verstärkte Anstrengungen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit sowie für eine bessere berufliche und soziale Integration von Langzeit-Arbeitslosen und ausgesteuerten Menschen. Notwendig ist auch ein eidgenössisches Rahmengesetz für Existenzsicherung und Integration, damit schweizweit gleiche Kriterien in der Unterstützung von Bedürftigen angewandt werden und die ärgerlichen, ja zum Teil ungerechten Unterschiede zwischen den Kantonen beseitigt werden. Schliesslich sollten die verschiedenen Instrumente der sozialen Sicherheit auch besser aufeinander abgestimmt werden.



«Mit unserer Hilfe können wir die Lebensbedingungen von Millionen von Menschen nachhaltig verbessern und sie aus ihrer Not befreien.» (Jürg Krummenacher, Direktor Caritas Schweiz)


Noch ungleich grösser sind die Herausforderungen im Zusammenhang mit Krieg, Hunger, Elend und Not in der 3. Welt. Wie begegnet die Caritas dieser Herausforderung?


Caritas Schweiz ist mit einem Budget von rund 70 Millionen Franken in 50 Ländern der zweiten und dritten Welt engagiert. Wir sind zum einen sehr stark in der humanitären Hilfe und im Wiederaufbau in Kriegssituationen und nach Katastrophen an praktisch allen Brennpunkten der Welt tätig. So leisten wir gegenwärtig Nothilfe auf den Philippinen oder humanitäre Hilfe in Darfur, wo wir in einem grossen ökumenischen Konsortium über 300’000 Menschen in ihrem Überlebenskampf unterstützen. Oder wir realisieren grosse Wiederaufbauprojekte in den Ländern, die vom Tsunami heimgesucht wurden, in Pakistan, auf Java in Indonesien und nach wie vor auch auf dem Balkan. Allein in Bosnien und Kosovo haben wir seit dem Ende der Kriege geholfen, über 7000 Häuser und rund ein Dutzend Schulen wieder aufzubauen, was zwei Städten in der Grösse von Lugano oder Uster entspricht. Dann sind wir aber vor allem auch in der längerfristigen Entwicklungshilfe tätig, wo wir unzählige Projekte mit dem Ansatz «Hilfe zur Selbsthilfe» im sozialen, Gesundheits- und Bildungsbereich realisieren, aber auch Projekte der Einkommensförderung oder im Kampf gegen die wachsende Verwüstung unterstützen.


Alle Aktionen und Aufrufe erscheinen in Zeiten der Globalisierung und wachsender Kluft zwischen Arm und Reich als ein Tropfen auf den heissen Stein. Täuscht der Eindruck?


Ich will jetzt nicht das Bild bemühen, dass auch das Meer aus einer Vielzahl von Tropfen besteht. Ich bin aber tatsächlich fest davon überzeugt, dass unsere Hilfe viel mehr ist als ein Tropfen auf einen heissen Stein. Sie ist eher ein Stein, der ins Wasser geworfen wird und Wellen wirft. Mit unserer Hilfe können wir die Lebensbedingungen von Millionen von Menschen nachhaltig verbessern und sie aus ihrer Not befreien. Auch mir ist jedoch bewusst, dass es neben den konkreten Projekten vor Ort auch Anstrengungen auf der politischen Ebene braucht. Deshalb setzt sich Caritas Schweiz im Rahmen von Alliance Sud für eine gerechtere Wirtschaftsordnung und für entwicklungspolitische Massnahmen ein.


Wäre mit einer «Globalisierung der Hilfe» den gewaltigen Ausmassen der Not in der 3. Welt beizukommen und wie müsste diese von Statten gehen?


Die Hilfe findet ja heute schon global, praktisch überall auf der Welt statt. Und es gibt überall auch Anstrengungen, die Hilfe koordiniert zu leisten. Zudem finden in der Schweiz unter den grösseren Hilfswerken auch regelmässige Absprachen gemeinsam mit der Glückskette und der Deza statt. Es ist aber durchaus sinnvoll, dass es in allen Ländern private Hilfswerke gibt, die ihr jeweils eigenes Profil haben und so auch unterschiedliche Menschen ansprechen können.


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Wie ist Caritas Schweiz international in die Arbeit von Caritas eingebunden?


Caritas Schweiz ist eines der 162 nationalen Mitglieder von Caritas Internationalis. Caritas Internationalis ist wahrscheinlich das grösste internationale Netzwerk, das es gibt. Unser Weltverband ist aber sehr föderalistisch organisiert. Das heisst, dass für die jeweiligen Projekte die einzelnen nationalen Caritas-Organisationen selber verantwortlich sind. In Ländern, in denen mehrere Caritas-Organisationen aus dem Norden tätig sind, übernimmt eine Organisation die Aufgabe der Koordination. Caritas Schweiz ist eine der grössten und aktivsten Organisationen innerhalb von Caritas Internationalis. Wir arbeiten auch in den Organen und Kommissionen auf europäischer und internationaler Ebene aktiv mit.



«Ich würde nicht von einer generellen Entsolidarisierung der Gesellschaft sprechen. Es gibt nach wie vor sehr viele Menschen, die solidarisch denken und handeln.» (Jürg Krummenacher)


Die gesellschaftliche Individualisierung prägt unsere Zeit. Wie sehr spüren Sie in Ihrer täglichen Arbeit, dass sich dadurch die Bereitschaft zu solidarischem Denken und vor allem auch Handeln verändert?


In unserem Land ist zum Teil ein verstärkter Egoismus und ein Verlust an Gemeinsinn spürbar. Vermehrt stellen reiche Menschen ihren Reichtum zur Schau und zeigen wenig Gespür für schwächere Menschen auf den Schattenseiten des Lebens. Ich würde aber nicht von einer generellen Entsolidarisierung der Gesellschaft sprechen. Es gibt nach wie vor sehr viele Menschen, die solidarisch denken und handeln. Das zeigt sich bei unserem Spendenaufkommen, das in den letzten Jahren gewachsen ist, selbst wenn wir als Hilfswerk, das auch in Katastrophen aktiv wird, stärkeren Schwankungen ausgesetzt sind, als andere Hilfswerke. Die Solidarität zeigt sich ebenso im Engagement von unzähligen freiwilligen Helferinnen und Helfern.


Die Individualisierung führt aber auch dazu, dass sich die traditionellen Milieus wie das katholische Milieu oder das Arbeitermilieu auflösen. Dadurch lockern sich auch die Bindungen an die Hilfswerke und die Treue gegenüber den einzelnen Werken nimmt ab. Spender wechseln heute stärker ab.  Das hat zur Folge, dass die Konkurrenz unter den Hilfswerken in den letzten Jahren gewachsen ist.
 
Welche Auswirkungen hat dies auf das Wirken der Caritas und anderer Hilfsorganisationen?


Mit ihren Grundlagenpapieren und ihrer Informationsarbeit weist Caritas immer wieder auf die wachsende Kluft zwischen Reich und Arm hin, macht auf die Armut und die Nöte der Menschen hier in der Schweiz und anderswo auf der Welt aufmerksam und setzt sich ein für eine gerechtere, solidarischere Welt. Diesem Ziel dient auch die Aktion «Eine Million Sterne».


Letzte Frage: Wie begegnen Sie persönlich der gewaltigen Kluft zwischen Reichtum auf der einen und unvorstellbarer Not auf der anderen Seite?
 
Ich reise oft in unsere Projektgebiete. Die Not, die ich da sehe, bedrückt mich. Ich sehe aber immer auch, was wir mit unserer Hilfe bewirken, wie viele Menschen dank unserer Hilfe neue Hoffnung schöpfen und uns und unseren Spenderinnen und Spendern unendlich dankbar sind. Das berührt mich und macht mir jedes Mal aufs Neue Mut.


Herr Krummenacher, besten Dank für das Interview.





Zur Person:
Jürg Krummenacher (53) ist seit 1991 Direktor von Caritas Schweiz. Er ist in diesem Jahr Präsident von Alliance Sud und wirkt in verschiedenen Kommissionen auf nationaler und internationaler Ebene mit. Unter anderem ist er Präsident der Eidgenössischen Koordinationskommission für Familienfragen (EKFF), Mitglied der Beratenden Kommission des Bundesrates für Internationale Politik und Zusammenarbeit und Mitglied des Stiftungsrates der Glückskette. Jürg Krummenacher hat an der Universität Zürich Psychologie und Sozialwissenschaften studiert und mit dem Lizentiat abgeschlossen. Er war nach dem Studium zunächst als Schulpsychologe tätig. Danach war er Psychologiedozent und Rektor der Höheren Fachschule für Soziale Arbeit. von 1980 bis 1991 war er Mitglied des Schwyzer Kantonsrates. Vor kurzem hat ihm die Theologische Fakultät der Universität Luzern den Ehrendoktor verliehen.


Zu Caritas:
Caritas Schweiz hilft Menschen in Not im Inland und weltweit in über 50 Ländern. Das Netz von Regionalen Caritas-Stellen hilft konkret, wo Menschen in der reichen Schweiz von Armut betroffen sind: Familien, allein Erziehende, Arbeitslose, working poor. Caritas vermittelt Freiwilligeneinsätze. Das Hilfswerk betreut Asyl Suchende und Flüchtlinge. Weltweit leistet Caritas Nothilfe bei Katastrophen und ermöglicht Wiederaufbau. Die Entwicklungszusammenarbeit ist Hilfe zur Selbsthilfe in Bereichen wie Bildung, Wasser, Ökologie, Gesundheit und Friedensförderung.


Zur Aktion «Eine Million Sterne»:
Mit der Aktion «Eine Million Sterne» setzt Caritas ein Zeichen für eine solidarische Schweiz, deren Stärke sich am Wohl der Schwachen misst. Die Zahl der Menschen, die sich allein und ausgegrenzt fühlen, wächst auch in der Schweiz. Ob Jugendliche, die keine Lehrstelle oder keinen Arbeitsplatz finden, ob ältere, erwerbslose Menschen.  
«Eine Million Sterne» setzt auch ein Zeichen für die Solidarität des reichen Nordens mit dem Süden. Das menschliche Leid in den Ländern des Südens ist bedrückend. Hunderte von Millionen Menschen in Lateinamerika, Afrika und Asien leben unter menschenunwürdigen Bedingungen in absoluter Armut. Sie sind unterernährt. Jedes Licht ist ein Bekenntnis für eine Schweiz, die Schwache stützt und in Not Geratenen hilft. In der Schweiz genauso wie in der Dritten Welt.

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